Fabian Cancellara stellt sich mit dem Aufbau eines Schweizer Teams eine neue, grosse Aufgabe. Für Experte Henri Gammenthaler ist das ein Glücksfall für den nationalen Radsport – allerdings ohne viel Hoffnung auf ein Schweizer Starensemble.
Wenn einer ein neues Schweizer Team an der Weltspitze der Radsport-Welt etablieren kann, dann ist es wohl Fabian Cancellara. Bereits als Fahrer hat der Doppel-Olympiasieger alles gesehen und vieles gewonnen, dem Radsport bleibt Cancellara aber auch nach seinem Rücktritt 2016 erhalten – ob als Veranstalter eigener Rennen oder als Manager des aufstrebenden Marc Hirschi. Nun erfüllt sich der 41-Jährige mit der Gründung eines eigenen Teams einen Lebenstraum, für den er wie geschaffen scheint.
Denn der Berner kennt nicht nur das alltägliche Leben und damit wohl die Vorlieben eines Radprofis, sondern bringt in diversen Bereichen vielseitige Fähigkeiten mit. «Cancellara ist ein absolutes Verkaufstalent. Und seine immense Erfahrung ist Gold wert. Er weiss genau, wie man mit Fahrern, Sponsoren und Medien umgeht. Diese Kombination an Fähigkeiten ist selten zu finden», sagt Henri Gammenthaler im Gespräch mit blue Sport und streicht die grössten Stärken von Cancellara heraus: «Sein unbändiger Wille, die enorme Zielstrebigkeit und die grosse Leidenschaft. Eine Kombination, die unbestritten zum Erfolg führen kann.»
Henri Gammenthaler
Henri Gammenthaler analysiert das Radsport-Geschehen für «blue Sport». Der Zürcher war einst selbst Fahrer, später TV- und Radio-Experte und Kommentator der Tour de Suisse.
«Ein Geschenk für den Schweizer Radsport»
Allerdings nicht von heute auf morgen. Dass der Teamaufbau Zeit beansprucht, ist aber auch Cancellara völlig klar. Die Zielsetzung für das Team Tudor Pro Cycling, sich ab 2024 für die Rennen auf höchster Stufe zu qualifizieren, ist dennoch ambitioniert. Insbesondere, weil Cancellara gemäss eigener Aussage nicht ein Starensemble zusammenkaufen will. Vielmehr will er weiter Schweizer Talente fördern und auf sie setzen.
«Das ist ein Geschenk für den Schweizer Radsport. Ein Profi-Team, in dem junge Talente erste Profi-Luft auf höchstem Niveau schnuppern können, hat in den letzten Jahren gefehlt», zeigt sich Gammenthaler begeistert und ist zudem überzeugt, dass die Gelegenheit, für die Equipe von Doppel-Olympiasieger Cancellara zu fahren, den jungen Schweizer Talenten einen zusätzlichen Motivationsschub verleiht – und künftig die Abwanderung zu ausländischen Mannschaften zumindest teilweise eindämmt.
Wohl so manch ein Schweizer Radsport-Fan liebäugelt gar mit einer Teambesetzung, die ausschliesslich aus einheimischen Talenten und den bereits etablierten Schweizer Aushängeschildern besteht. Doch dass Stefan Küng, Gino Mäder, Stefan Bissegger oder auch Marc Hirschi eines Tages allesamt für das Cancellara-Team in die Pedalen treten, ist für Gammenthaler ein sehr schwieriges Unterfangen – in erster Linie aus finanziellen Gründen. Aber nicht nur.
Nur kleine Hoffnungen auf grosse Stars
Selbst im Fall von Marc Hirschi, zu dem Cancellara als Berater ein enges Verhältnis pflegt, sieht Gammenthaler derzeit wenig Argumente für einen einstigen Zuzug des Berners zu Tudor Pro Cycling. «Hirschi fühlt sich sehr wohl im Team Emirates. Als anerkannter Edelhelfer von Superstar Pogacar erfährt er im enorm erfolgreichen Team auch genügend Wertschätzung. Zudem kommt Hirschi zum Zug, sobald Pogacar nicht antritt – wie zuletzt beim Klassiker Lüttich–Bastogne–Lüttich. Da hat sich schon ein Vertrauensverhältnis entwickelt», erklärt Gammenthaler.
Deshalb erkenne er derzeit gar keine Gründe, wieso Hirschi in naher Zukunft überhaupt einen Teamwechsel anstreben sollte. Genau das müsste aus Sicht des Radexperten aber so sein. «Cancellara wird Hirschi kein Angebot machen, das muss von ihm kommen», meint Gammenthaler und nimmt den angehenden Teamchef damit beim Wort, der bei der Vorstellung seines neuen Projekts am Dienstag klarmacht. «Ich bin der Letzte, der sagt: ‹Du musst zu uns wechseln.› Am Schluss bringt das mir und ihm nichts», so Cancellara.
Und so sieht Radexperte Gammenthaler trotz grosser Hürden zwar intakte Chancen auf eine rosige Schweizer Radsport-Zukunft. Er macht aber auch klar: «Die Hoffnung, dass Cancellara einfach alle besten Schweizer zusammenkauft, ist Utopie.»