Abrechnung Der Tag, an dem sich das Schwergewichtsboxen beerdigte

Von René Weder

9.12.2019

Anthony Joshua, seine Entourage und die Saudis: die Sieger des WM-Kampfs am Wochenende.
Anthony Joshua, seine Entourage und die Saudis: die Sieger des WM-Kampfs am Wochenende.
Bild: Getty

Anthony Joshua hat sich bei Andy Ruiz Jr. revanchiert und ist wieder Champion der Verbände WBO, WBA, IBF und IBO. Der Kampf am späten Samstagabend bot entgegen Annahme und Hoffnung weder Spektakel noch Offenbarung. Im Gegenteil: Um das Schwergewichtsboxen steht es schlechter als je zuvor.

Der Kampf

«Kämpfen kann jeder, Boxen nur die wenigsten», lautet ein gängiges Bonmot. Das wurde auch am Samstag klar. Joshua hat sich im Gegensatz zum ersten Kampf im Sommer gegen Ruiz gut vorbereitet, wusste um seine Stärken – und Ruiz’ Schwächen. Der Brite hielt den Mexiko-Amerikaner auf Distanz, machte sich die körperlichen Vorteile und seine Reichweite zunutze und wich dem Infight konsequent aus. Spannung kam während zwölf Runden nie auf. Für Ruiz setzte es in der ersten Runde einen Cut am linken Auge ab, der Höhepunkt des Kampfes war damit bereits erreicht. Joshua war fit, spulte seinen Tanz über die volle Distanz ab. Respekt an dieser Stelle für seine Ausdauer. Der 30-Jährige profitierte auch davon, dass der Ring die grösstmögliche Grösse hatte – ohnehin war der Kampf komplett auf Joshua ausgelegt. Böse Zungen behaupten, der Brite sei vor Ruiz davongerannt. Joshua-Anhänger halten dagegen, dass Boxen eben auch Taktik sei. Recht haben sie.

Die Boxer

▶️ Ruiz: Eine absolute Enttäuschung. Als ob er nicht schon schwer genug gewesen wäre, futterte er sich vor dem Kampf weitere sieben Kilo auf die wabernde Wampe. Das machte ihn noch weniger agil. Gewiss wäre der Punch in seinen Schlägen vorhanden, aber Kombinationen kamen keine, und Joshua liess ihn gar nicht erst in seine Nähe kommen. Bizarr: In der allerletzten Runde forderte Ruiz seinen Kontrahenten auf, endlich stehen zu bleiben und sich zu stellen. Das wäre so, als würde im Fussball der Stürmer den Goalie bitten, zur Seite zu weichen. Ruiz gestand später, dass der plötzliche Erfolg nach dem ersten Sieg zu viel für ihn war. «Ich kann nicht sagen, dass drei Monate Party machen spurlos an mir vorübergegangen sind. Das hat mich beeinflusst, um ehrlich zu sein», so der 30-Jährige, der mindestens zehn Millionen Dollar für sein Erscheinen im Ring kassierte. Echt jetzt?

▶️ Joshua: Gewiss ein ganz starker Boxer. Ob er der Beste aktuell ist, ist schwer zu sagen. Weder gegen Tyson Fury noch gegen Deontay Wilder hat der Brite bisher geboxt. Das wären aktuell die grössten Gradmesser in seinem Sport. Joshua hat durchaus klug gekämpft, aber in den letzten Tagen vor allem menschlich enttäuscht. Das Image des aufrichtigen Kämpfers, das er zu Beginn seiner Karriere hatte, ist definitiv Vergangenheit. Wie er sich im Rahmen des «Kampfs in den Dünen» bei den Saudis anbiederte (und am Ende noch von Demut sprach), war irritierend. 70 Millionen Dollar setzte es für Joshua an Antritts- und Preisgeld ab. Vielleicht kauft er sich davon ein nettes Ferienhaus in Riad.

Ein Athlet (rechts) und sein Gegenüber.
Ein Athlet (rechts) und sein Gegenüber.
Bild: Keystone

Die Saudis

Wie wir inzwischen wissen, kann man sich zwar jeden Sportanlass dieser Welt kaufen. Aber nicht dessen Seele, denn die blieb am Samstag einmal mehr komplett auf der Strecke. Zwar bekamen die Saudis ein paar Erinnerungsfotos und etwas Aufmerksamkeit. Aber die Atmosphäre im 15’000 Zuschauer fassenden, bei Weitem nicht ausverkauften Stadion war ein noch grösseres Trauerspiel als der Kampf selbst. Nicht einmal der Gassenhauer «Sweet Caroline» konnte das Publikum aus der Reserve locken. Ein paar wenige Briten versuchten, das Beste aus der misslichen Situation zu machen. Dieselben fünf Personen wurden dann auch immer wieder am TV gezeigt.

Immerhin nahmen einige Frauen im Publikum Platz, sassen teilweise ohne Kopfbedeckung Seite an Seite mit den Männern. Dafür sollen wir im Jahr 2019 applaudieren?! Nummerngirls gab es übrigens keine. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass in naher Zukunft immer mehr Sportanlässe nach Saudi-Arabien, Katar und Co. abwandern. Funktionäre und Verbände tun gut daran, diesem Trend wieder entgegenzuwirken. Ansonsten sieht es zappenduster aus. Auch wenn die Börse stimmt.

So geht es weiter

Völlig offen. Ruiz fordert zwar eine «Trilogie» und Revanche gegen Joshua. Er werde fit sein, gelobt der Mexikaner, der alle enttäuschte, ausser die Köche in seiner Heimat. Joshua sagte zu allem Unheil unmittelbar nach dem Kampf mündlich zu, bevor er ein paar saudische Gesandte mit rot-weissen Kopfbedeckungen herzte. Der geldgierige Box-Promoter Eddie Hearn meint, dass noch viele Kämpfe in Saudi-Arabien stattfinden werden. Ruiz würde bestimmt umgehend einschlagen. Bloss nicht! Wer um Himmels willen möchte einen solchen Kampf nochmals sehen? Es bleibt – wenn überhaupt – genau eine Möglichkeit, den völlig verzettelten Sport irgendwie noch zu retten: mit einem Vereinigungskampf zwischen dem Vierfach-Weltmeister Joshua und dem Sieger des Februar-Kampfs zwischen Wilder und Fury (WBC). Aber so wie die Dinge in den letzten Jahren liefen, wird man es irgendwie schaffen, diesen Kampf nicht zu organisieren.

Das Fazit

Schwergewichtsboxen, ich habe dich einmal geliebt, aber viel ist von dieser Liebe nicht mehr übrig. Seit mindestens zehn Jahren kennst du bloss noch eine Richtung: Es geht steil abwärts. Muhammad Ali und Joe Frazier würden sich im Grabe drehen, wenn sie wüssten, was aus dir geworden ist. Auch ein Mike Tyson, Evander Holyfield oder George Foreman dürften keine Freude an dieser Entwicklung haben. Man könnte sie verstehen.


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