Ariella Kaeslin hat genug vom Verstecken und Verstellen. In einem Interview offenbart die frühere Weltklasse-Turnerin ihre Liebe zu Frauen.
«Ich möchte mich nicht verstecken. Ich möchte auch nicht noch einmal gefragt werden, ob ich wieder einen Freund habe, nur weil die Leute nicht wissen, dass ich doch jetzt eine Freundin habe. Würde ich einfach nicht darüber reden, käme mir das vor wie lügen», sagt Ariella Kaeslin in einem Interview mit «Das Magazin».
Die 33-Jährige gehört zu den prominentesten Sportlerinnen der Schweiz. Zwischen 2008 und 2010 wurde sie dreimal zur «Sportlerin des Jahres» gewählt, 2009 krönte sie sich zur Europameisterin im Kunstturnen. Einer Sportart, in der es auch immer darum ging, den Männern zu gefallen, wie Kaeslin sagt: «Ich spürte, dass die Erwartungen an Weiblichkeit auch in unserem Sport mit Heterosexualität verknüpft sind.»
Dieses betont Weibliche des Frauenkunstturnens machte ihr aber früh zu schaffen. «Mir war nie ganz wohl in meiner Rolle als Turnerin. Es musste glitzern, obwohl ich keinen Glitzer wollte, ich musste mir die Haare wachsen lassen, obwohl ich sie kurz tragen wollte.» Das Turndress, die Schminke, dieses prinzessinnenhafte Verhalten habe ihr nie behagt.
«Ich habe auch Angst»
Und trotzdem merkte sie erst spät, dass sie auf Frauen stehe. «Ich fand Frauen schon immer attraktiv, doch wenn mir eine besonders gefiel, dachte ich, das liege daran, dass ich sein möchte wie sie», so Kaeslin. «Vielleicht stimmte das auch – früher. Vor einiger Zeit merkte ich dann, dass sich etwas veränderte. Ich verknallte mich.»
Um mehr über diese Liebe herauszufinden, habe sie lesbische Sportlerinnen getroffen und sich mit ihnen ausgetauscht. Schliesslich sei ihr klar geworden, dass «ich mich als öffentliche Person auch öffentlich outen muss, sonst werde ich meine Liebe zu einer Frau nie in Freiheit leben können». Doch auch die Angst spiele beim Outing mit. «Ich fürchte mich davor, dass die Leute denken, ich würde mich unnötig aufspielen.»
Eine Abneigung gegenüber Männern habe sie aber nicht, so Kaeslin. Im Gegenteil. Sie sei auch immer glücklich mit Männern gewesen, hatte ausnahmslos gute Beziehungen. So kann sie sich auch die Frage nicht so recht beantworten, ob sie lesbisch sei oder bisexuell. «Es fällt mir schwer, das zu definieren», meint die frühere Spitzenturnerin.
Manchmal schämt sie sich für ihre Homosexualität
Und weiter: «Gleichzeitig belastet mich diese Uneindeutigkeit. Ich weiss, es ist doof, aber ich habe Angst davor, dass ich irgendwann vielleicht wieder mit einem Mann zusammenkomme und die Leute dann sagen: ‹Die hüpft hin und her, die kann sich nicht entscheiden, die hatte eine Phase, die ist bloss auf einen Trend aufgesprungen.›»
Kaeslin spricht von internalisierter Homophobie, die ihr zu schaffen mache. «Damit werden negative Gefühle gegenüber der eigenen Homosexualität bezeichnet.» Weil dieses Phänomen einen Namen hat und sie weiss, dass sie nicht die einzige frauenliebende Frau ist, kommt sie aber gut damit klar. «Ich bin mir dann weniger böse, wenn es wieder einmal geschieht, dass ich mich für meine Homosexualität schäme.»
Wenn sie sich mal wieder Gedanken darüber mache, komme sie immer zum gleichen Punkt: «Es geht nicht darum, ein für alle Mal herauszufinden, wer ich bin. Ich kann mal so sein, mal so. Ich kann mich immer neu entdecken. Und alle anderen können das auch.»
Ariella Kaeslin ist und bleibt eine Pionierin. Erst gab sie jungen Turnerinnen Mut, an die Spitze zu streben. Dann redete sie als erste Schweizer Spitzensportlerin über ihre Erschöpfungsdepression, über die rücksichtslose Seite des Sports, über Mobbing, psychische Gewalt und Machtmissbrauch am Leistungszentrum des Schweizerischen Turnverbands in Magglingen. Jetzt folgt das Coming-out. «Ich kann stolz auf mich sein», sagt Kaeslin. «Meinem Herzen zu folgen, ist das Grösste und Beste, das ich machen kann.»