Andri Ragettli lebt seinen Traum als Ski-Freestyler und Social-Media-Star. Im Interview spricht der Bündner über sein Flair für Extremsportler und Fussball-Millionen.
Nach der Saison ist vor dem freien Fahren: Andri Ragettli zieht es auch nach dem letzten Ernstkampf auf die Piste. Und das nicht nur, weil er im Vorjahr neun Monate verletzungsbedingt vom Skifahren abgehalten wurde. Er sei keiner, der zwei Wochen am Strand liege und nichts tue, sagt der 23-jährige Bündner im Gespräch mit Keystone-SDA.
Ragettli lebt seinen Traum als Ski-Freestyler und Social-Media-Star. Er schätzt es, sein eigener Chef zu sein – und findet dank seinem Faible für Extremsport auch Gefallen an der für viele Athleten zähen Rehabilitionphase. Dabei wäre aus dem Flimser fast ein Fussballer geworden. «Das Commitment für eine Fussballkarriere wäre auf jeden Fall da gewesen, und ich glaube, auch das Talent hätte gestimmt», sagt Ragettli. Im Kosmos der Freeskier führten ihn seine Zielstrebigkeit und Professionalität bislang zu drei Goldmedaillen an den X-Games, einem WM-Titel und fünf Weltcup-Kristallkugeln.
Andri Ragettli, es war eine intensive Saison für Sie – zuerst die lange Reha nach dem Kreuzbandriss, der Wettlauf gegen die Zeit mit den nahenden Olympischen Spielen, dann das traumhafte Comeback im Weltcup und an den X-Games, schliesslich der bittere 4. Platz in Peking und die kleine Kristallkugel im Slopestyle-Weltcup dank dem 3. Platz im Heimweltcup in Silvaplana. Sind Sie froh, dass die Saison vorbei ist?
«Nein, ich mache das ja gerne. Aber klar, der Winter ist lang und kostet viel Energie, mental und körperlich. Trotzdem freue ich mich jetzt auf ungezwungene freie Skitage mit Freunden. Ich weiss nicht, wie es bei den Alpinen ist, aber wir Freestyler fahren nach der Saison gerne für uns Ski, machen Videos und haben Spass. Genau das ist ja der Grund, wieso ich mit diesem Sport angefangen habe. Ich könnte auch heute noch jeden Tag von morgens bis abends auf Ski sein.»
Sie brauchen keine Pause?
«Doch, das schon. Im Mai/Juni zieht es auch mich nicht in den Schnee, in diesem Sommer etwa gehe ich surfen. Diesen Abstand brauche ich auch, er gibt mir immer neue Motivation. Gefühlt ist für mich aber auch das freie Skifahren Pause. Mehr als sechs Monate lang oder mehr nicht auf Ski war ich das letzte Mal als Zweijähriger.»
Gibt es so etwas wie Gemütlichkeit im Leben eines Getriebenen wie Sie?
«Ich bin sicher keiner, der zwei Wochen an den Strand liegt und nichts tut. Ich setze mir immer Ziele, bei allem, sonst wärs langweilig. Als Freeskier lebe ich tatsächlich meinen Traum. Das wurde mir gerade eben auch wieder bewusst, als ich mir sagte, wie froh ich bin, dass ich nicht noch zur Schule oder so gehen muss, sondern einfach das machen kann, was ich will. Ich bin mein eigener Boss.»
Der gelebte Traum trotz der Strapazen und Verletzungen, die der Erfolg bedingt?
«Verletzungen wie zuletzt der Kreuzbandriss sind natürlich keine Peanuts. Während ich verletzt war, hatte ich verdammt schwierige Momente. Aber tatsächlich fand ich auch an diesem Weg Gefallen. Rückblickend erachte ich die Zeit während der Verletzung als eine ganz tolle und auch sehr lehrreiche Zeit.»
Den letzten Rückschlag erlebten Sie an den Olympischen Spielen vor gut einem Monat. Die Enttäuschung war riesig, aber nur von kurzer Dauer. Wie gelingt es Ihnen, Enttäuschungen so schnell abzuhaken?
«Es gibt dazu einen Satz von David Goggins, einem Extremsportler und ehemaligen US-Navy-Seal, den ich recht cool finde: 'Get the fuck over it' – komm darüber hinweg. So ist es: Sitze es aus und greife neu an. Leute wie Goggins und Wim Hof, den ich im letzten Sommer in den Niederlanden besuchte, inspirieren mich mit ihrer mentalen Stärke.»
Die Freestyler springen inzwischen 1800er, fünf Rotationen, oder noch mehr. 1620er gehören zum Standardrepertoire. In welche Richtung sollte sich die Disziplin Slopestyle Ihrer Meinung nach weiter entwickeln?
«Die Rails gehören bei uns natürlich auch dazu und sind genauso wichtig. Aber ja, in Sachen Rotation ist das Niveau crazy. Im Big Air wird es in absehbarer Zeit Anpassungen geben müssen, zum Beispiel einen Formatwechsel. Es sollte mehr Sprünge geben, von denen aber jeder zählt. So müsste man im Wettkampf das Risiko mehr dosieren und das machen, was man wirklich beherrscht. Auch für die Punktrichter würde es auf diese Weise leichter. Die Disziplin Slopestyle wird, glaube ich, weiterhin so funktionieren wie bis jetzt. Mit den vielen Sprüngen und Rails in einem einzelnen Run passt das aktuelle Format.»
Wo setzen Sie die Hebel in Ihrem Repertoire als Nächstes an?
«Definitiv muss ich in diesem Sommer Zeit ins Training mit dem Airbag investieren. Das konnte ich das ganze letzte Jahr bis auf ein paar wenige Ausnahmen nicht, und das spürte ich auch. Wenn ich bedenke, dass die Gegner während meiner ganzen Verletzungszeit wochenlang auf dem Airbag trainieren und neue Tricks lernen konnten, habe ich nach dem Comeback das Maximum herausgeholt. Ich kam auf dem Stand zurück, an dem ich mich verletzt hatte, wenn überhaupt. Jetzt werde ich versuchen, vor allem auf meiner schwächeren Seite ein, zwei neue Tricks in mein Repertoire zu nehmen.»
Sie spielten als Junior auch ambitioniert Fussball. Glauben Sie, aus Ihnen hätte auch ein Fussballer werden können?
«Das Commitment wäre auf jeden Fall da gewesen, und ich glaube, auch das Talent hätte gestimmt. Ob das gereicht hätte, sei dahingestellt. Früher sagte ich jedenfalls immer, dass ich entweder Profi-Fussballer oder Profi-Freeskier werden will. Etwas anderes kam gar nie in Frage.»
Als Fussballer auf ihrem Freeski-Niveau wären Sie Multimillionär.
«Es geht mir auch so nicht schlecht. Ich bin mega zufrieden und spüre, dass das erst der Anfang ist und noch vieles drinliegt. Ich bereue keineswegs, dass ich diesen Weg gegangen bin. Als Fussballer hätte ich mich zum Beispiel auf Social Media nicht so ausleben können wie jetzt. Auch diesen kreativen Part mache ich sehr gerne. Ich kann mich definitiv nicht beklagen, auch nicht wegen des Geldes.»
jos, sda