In den Tagen vor seinem 100. Länderspiel befasst sich Granit Xhaka im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA mit den entscheidenden Phasen seiner Laufbahn im SFV-Dress.
Erst fünf Schweizer haben die Marke von 100 Länderspielen erreicht: Heinz Hermann (118), Alain Geiger (112), Stephan Lichtsteiner (108), Stéphane Chapuisat (103) und Xherdan Shaqiri (100). Grosse Namen, grosse Persönlichkeiten. Granit Xhaka tritt nun zeitnah ebenfalls in den erlauchten Kreis ein. Er kann die Grössenordnung einschätzen und hat eine historische Marke im Sinn.
«100 Spiele für ein Land zu machen, ist eine grosse Ehre. Aber es ehrt mich eigentlich schon, überhaupt je die Chance bekommen zu haben, Nationalspieler zu werden. Das war nur mit sehr viel Arbeit und Unterstützung der Familie denk- und machbar. Dass ich nun diese Marke erreichen werde, verdanke ich auch meinen Mitspielern und dem ganzen Stab der Nationalmannschaft. Selbstverständlich hoffe auf viele weitere Länderspiele. Ich bin 29-jährig, Heinz Hermann steht bei 118 Partien – diese Zahl möchte ich eigentlich knacken. Wenn ich fit und munter bleibe, hole ich diesen Rekord.»
Frühling 2011. Die Rücktritte von Alex Frei und Marco Streller erschüttern den SFV. Der Abgang der Tenöre ist die Chance der nächsten Generation. Ottmar Hitzfeld bietet für die EM-Ausscheidung in London Granit Xhaka auf. Im Alter von 18 debütiert Xhaka im ausverkauften Wembley gegen England. Eine neue Zeitrechnung beginnt.
«Ich erinnere mich sehr, sehr gut an den 4. Juni 2011 in London. Als mich Ottmar Hitzfeld in sein Zimmer bat und mich fragte, ob ich bereit sei zu spielen, war meine Antwort: Klar, deshalb bin ich hier. Aber den Moment bei der Hymne werde ich mein ganzes Leben lang nie vergessen – ich bin fast zusammengebrochen. Die Emotionen bei mir gingen extrem hoch, und auch die Stimmung im Stadion fühlte sich fantastisch an. 85'000 Zuschauer, ausverkauftes Wembley. Mein erstes Spiel für die Schweiz gegen das grosse England. Gänsehaut pur. Da war die neue Generation der Schweiz am Start. Hitzfeld hat die Türen für mich und viele andere Jungen aufgemacht. Er gab uns die Chance, sich zu zeigen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.»
WM 2014 in Brasilien – das erste grosse Turnier im A-Team. Xhaka, damals noch bei Borussia Mönchengladbach engagiert, fliegt als Stammspieler zum bisherigen Highlight seiner Laufbahn nach Südamerika. Das Out gegen das grosse Argentinien mit Captain Lionel Messi als dramatische Derniere im Kopf.
«Wer hätte gedacht, dass ich 2014 in Brasilien mein erstes WM-Spiel bestreiten würde. In einem Land, in dem der Fussball das A und O ist. Mit Worten kann man das kaum beschreiben. Uns gelang ein tolles Turnier. Das ganz, ganz grosse Spiel dann zum Schluss – gegen Argentinien mit Messi, Di Maria und Higuain. Von solchen Duellen träumt man als Fussballer. Wir zeigten einen grossartigen Auftritt; die Zuschauer feierten uns trotz der bitteren Niederlage. Mit ein bisschen mehr Glück hätten wir Argentinien im Penaltyschiessen besiegen können. Die damaligen Erfahrungswerte sind unbezahlbar.»
Am 11. Juni 2016 steht Granit in Lens seinem Bruder Taulant auf der EM gegenüber. Eine berührende Fussball-Begegnung für die Geschichtsbücher. Dem einmaligen Erlebnis folgen dominante Auftritte Xhakas. Selten zuvor prägte ein Mittelfeldspieler das Spiel der Schweizer spürbarer. Dann aber trübt der Penalty-Fehlschuss gegen Polen die Bilanz erheblich.
«Es begann mit einem Highlight, dem Spiel gegen Albanien und meinen eigenen Bruder. So etwas haben nicht viele erlebt. Dieser Tag wird für alle immer in Erinnerung bleiben. Im Achtelfinal hingegen haben wir uns selber geschlagen. Wir gerieten früh in Rückstand, danach spielten wir Polen während 60, 70 Minuten an die Wand. Es gab Chance um Chance. Im Penaltyschiessen ist dann eben immer einer der grosse Depp. In Frankreich war ich derjenige, der den entscheidenden Elfer verschoss. Danach ging es darum, wieder aufzustehen. Das habe ich meiner Meinung nach gut hinbekommen.»
2018 überschatten negative Emotionen den spektakulären 2:1-Triumph gegen Serbien. Xhaka und Xherdan Shaqiri lassen sich inmitten einer aufgeladenen Atmosphäre zur Doppel-Adler-Geste hinreissen. In der Folge kommt es zu einer landesweiten Debatte und einem teaminternen Energieverlust. Am Ende scheidet das Team mit einer auffällig blassen Leaderfigur Xhaka gegen Schweden aus. Zurück bleibt ein flaues Gefühl, eine weitere Chance selbstverschuldet verpasst zu haben.
«Das Spiel gegen Serbien war etwas vom Aufwühlendsten, das ich bisher erlebt habe. Ich hatte schon zuvor als Junger viele verschiedene Emotionen durchgemacht, aber an jenem Tag war alles eine Spur extremer. Allein schon die Ausgangslage und der Spielverlauf. Wir wussten, wir müssen unbedingt gewinnen. Dann lagen wir 0:1 zurück, im Stadion schwappten die Gefühle hoch, auf dem Feld gab es viele Fouls. Es kam am Ende sehr viel zusammen. Ich machte eine Geste, die ich im Moment für richtig gehalten hatte. Im Nachhinein verlor ich deshalb extrem viel Energie. Der Achtelfinal gegen Schweden war eines der schlechtesten Spiele meiner ganzen Nationalmannschaftskarriere. Keine Emotionen, keine Power, nichts. Alles drehte sich im Hintergrund um dieses Thema. Es kostete mich unfassbar viel Kraft. Entsprechend gross war mein persönlicher Frust.»
Die nächste EM-Endrunde, mitten in der Corona-Pandemie, diverse Diskussionen auf den Nebenschauplätzen. Ein 0:3 in Rom gegen Italien löst eine mehrtägige Debatte um die SFV-Auswahl aus. Es geht um Frisuren und Haltung. Die Spieler reagieren auf ihre Weise: mit dem Vorstoss in die Achtelfinals und dem Jahrhundertsieg gegen Weltmeister Frankreich in der Knock-out-Phase.
«Für einmal war die Startphase ungenügend. Es gab von Beginn weg sehr viel unnötige Unruhe. Dank unserer Reife haben wir es aber geschafft, die Probleme auszublenden. Wir liessen uns nicht vom Wesentlichen ablenken. Die Antwort folgte auf dem Rasen. Wenn du den Weltmeister schlägst, kannst du Grosses erreichen. Schade natürlich, dass wir gegen Spanien vom Penaltypunkt gescheitert sind. Aber dieses EM-Turnier ordne ich ganz weit oben ein in meiner Skala.»
Das 100. Spiel und ein Duell mit einer Nation, die bei Xhaka Gefühlswallungen auslösen wird: Die Schweiz empfängt am nächsten Dienstag den Kosovo im Letzigrund. Es ist ein Spiel gegen die Heimat seiner Eltern. Ein Zurück zu den Wurzeln, in eine Zeit, welche die Familie ungemein beschäftigte. Xhaka will die Affiche aufsaugen, geniessen. Und: Er ist stolz auf seinen Weg, auf die alte Heimat.
«Im Leben gibt es keine Zufälle. Mein 100. Spiel gegen den Kosovo, gegen einen Gegner, für welchen auch mein Herz schlägt. Das ist etwas Unglaubliches. Ich kann es kaum fassen, gegen den Kosovo auf dem Platz zu stehen. Es macht mich doppelt so stolz für die ganze Familie, für mich selber, für alle, ausgerechnet gegen die kosovarische Auswahl mein 100. Spiel im Nationalteam zu machen. Ich freue mich extrem auf diese Partie. Ich werde es geniessen. Freunde, Familien werden da sein, viele Zuschauer werden erwartet. Für mich soll es ein Genuss sein – ja. Ich will es einfach nur geniessen.»
sda