Gegen Wales gibt die Nati den Sieg aus der Hand, gegen Italien ist sie komplett überfordert und geht sang- und klanglos unter. Doch es gibt Grund zur Hoffnung, dass diese EM aus Schweizer Sicht doch noch ein Erfolg werden kann.
Die Nati gehört nicht zu den Topfavoriten, doch das Viertelfinale soll es dann bitte schon sein, so der generelle Tenor. Eine Erwartungshaltung, die ich nur schwer nachvollziehen kann. Eine heroisch kämpfende Nati, die gegen ein übermächtiges Frankreich im Achtelfinale scheitern würde, die ist unter Umständen eine Klasse besser als eine Schweizer Truppe, die sich dank eines 1:0-Sieges über Nordmazedonien fürs Viertelfinale qualifiziert.
Freude bereitet eine Mannschaft dann, wenn sie an ihr Limit geht und alles aus sich rausholt, die Spieler sich am Ende auf die Schultern klopfen und von sich behaupten können: Wir haben alles in unserer Macht Stehende versucht, um das Unmögliche möglich zu machen. So einfach ist das Aus meiner Warte.
Dass die Erwartungshaltung so hoch ist, das liegt auch an einigen Spielern selbst. Captain Granit Xhaka etwa sagt vor dem Turnier: «Wir wollen Geschichte schreiben», sprich den Titel gewinnen. Es sind solche Aussagen, an denen dann die gesamte Mannschaft gemessen wird. Wenn ein Hochspringer die Weltrekordhöhe von 2,46 Meter anvisiert und dann jedes Mal die Latte mit der Schulter reisst, dann läuft er Gefahr, irgendwann nicht mehr ernst genommen zu werden.
Dass Nati-Trainer Vladimir Petkovic das weitaus realistischere Minimalziel «Achtelfinal» herausgegeben hat, das lässt sich im Vorfeld des Turniers nur schlecht verkaufen und findet deshalb in den Medien kaum Gehör. Wer will das schon hören?
Auch Vladimir Petkovic ist jetzt gefordert
Vor dem letzten Gruppenspiel alles schlecht zu reden, das bringt uns nicht weiter. Die Mannschaft hat Wales über weite Strecken dominiert, Superstar Gareth Bale konnte sich kaum entfalten, das musst du erst mal hinkriegen.
Dass unsere Nati gegen Italien einen schweren Stand haben würde, das war klar. Das 3:0 gegen die Schweiz war der neunte Zu-Null-Sieg in Folge (Torverhältnis 27:0) – und letztmals ging die Squadra Azzurra am 10. September 2018 (0:1 gegen Portugal) als Verlierer vom Platz. Die Art und Weise, wie die Nati aufgetreten ist, die war allerdings enttäuschend, wie auch Redaktionskollege Florian Künzi in seinem Kommentar zurecht anmerkt (Video weiter unten). Keiner schien an seine Grenze zu gehen und schon gar nicht darüber hinaus.
Klar ist aber auch, dass erst am Schluss abgerechnet wird. Ein Sieg gegen die Türkei – auch das wird definitiv kein Selbstläufer – und die Welt sieht schon wieder ganz anders aus. Es gilt, die Lehren aus den beiden Spielen zu ziehen und dann den Blick nach vorne zu richten.
Auch der Trainer muss sich hinterfragen. Gegen die Türkei wird er kaum ein drittes Mal die gleiche Startelf ins Rennen schicken. Dass einige Spieler quasi unter Artenschutz stehen und kaum einmal um ihren Platz in der Startformation bangen müssen, diese Zeiten müssen beendet werden. Das Leistungsprinzip muss stärker in den Fokus rücken.
Ricardo Rodriguez und Fabian Schär sind weit von ihrer Bestform entfernt und auch die Personalie Xherdan Shaqiri ist nicht unumstritten. Er kann zwar in jedem Spiel den Unterschied machen, doch er wirkt nicht fit genug, um über 90 Minuten zu liefern. Bringt er der Mannschaft vielleicht mehr als Joker, wenn die Gegenspieler schon ein bisschen müde Beine haben?
Der bisweilen fehlende Konkurrenzkampf könnte mit ein Grund dafür sein, dass manch ein Spieler genügsam wird und nicht immer bereit ist, ans Limit zu gehen. Es geht hier nicht darum, «Schuldige» zu suchen – gerade die genannten Spieler haben in den letzten Jahren schon sehr viel geleistet. Doch klar ist auch: Manchmal braucht es Impulse, um neue Kräfte freizusetzen.
Macht es wie die Portugiesen 2016
Und jetzt drücken wir der Mannschaft die Daumen, dass sie den Rank findet und gegen die Türkei den ersten Sieg einfährt. Der Start ins Turnier hätte besser sein können, aber auch schlechter. Am letzten Spieltag hat es die Nati noch immer selbst in den Füssen, ob sie noch weitere Spiele bestreiten darf an dieser EM.
Dass auch nach einem «Fehlstart» noch alles möglich ist, das bewiesen die Portugiesen an der letzten EM. Als Dritter (drei Remis) beendete das Team um Cristiano Ronaldo die Gruppenphase – hinter Island und Ungarn! Die Mannschaft wurde in der Heimat arg unter Beschuss genommen.
Im Achtelfinale dann der 1:0-Sieg über Kroatien, im Viertelfinal setzten sich die Portugiesen gegen Polen im Penaltyschiessen durch. Der erste wirklich verdiente Sieg folgte im Halbfinal, 2:0-Sieg gegen Wales. Im Final brauchte es dann wieder das nötige Quäntchen Glück. Éder entschied das Spiel mit einem nicht unhaltbar scheinenden Distanzschuss in der 109. Minute, also spät in der Verlängerung.
Manchmal liegt im Fussball Genie und Wahnsinn ganz nah beieinander. Auch für die Schweiz ist an dieser EM noch alles möglich. Gegen die Türkei muss dafür aber ein Sieg her.