Der letzte Match an der Europameisterschaft in Deutschland ist ein Duell der Gegensätze. Argumente haben für den Final am Sonntagabend in Berlin sowohl England als auch Spanien.
Wie unterschiedlich sich Mannschaften erfolgreich durch ein Turnier spielen können, zeigten Spanien und England in den letzten Wochen. Auf der einen Seite die fast makellosen Spanier, die sich mit einer bewundernswerten Souveränität und einem Fussball fürs Auge zu sechs Siegen spielten. Auf der anderen Seite die oft schwerfälligen Engländer, die fast nie schön anzuschauen waren und im Team mehrheitlich schwächer wirkten als die Summe ihrer hoch dotierten Einzelspieler.
Und doch wäre es zu einfach, England als krassen Aussenseiter in seinem zweiten EM-Final in Folge darzustellen. Die Spieler von Gareth Southgate präsentierten sich als Überlebenskünstler, sie trafen in der K.o.-Runde zweimal sehr spät im Spiel, im Achtelfinal gegen die Slowakei, um überhaupt die Verlängerung zu erreichen, und im Halbfinal gegen die Niederlande zum 2:1-Sieg. Dazwischen gewannen sie gegen die Schweiz das Penaltyschiessen.
England ist für jede nervlich noch so anspruchsvolle Herausforderung gerüstet, nachdem es wegen der enttäuschenden Leistungen fast tagtäglich kritisiert worden ist. Zu Experten gewordene ehemalige englische Nationalspieler überboten sich, wenn es darum ging, die schwachen Vorstellungen der «Three Lions» mit markanten Worten zu beschreiben. In ihrem Teamcamp in der Thüringer Kleinstadt Blankenhain konnten die englischen Spieler das beliebte «Wir gegen den Rest» kultivieren.
58 Jahre Wartezeit
Der Weg von tief unten nach ganz oben ist nicht ungewöhnlich an grossen Fussball-Turnieren. Argentinien kassierte an der letzten WM gegen Saudi-Arabien eine Schockniederlage, bevor es sich wenige Wochen später zum Weltmeister krönte. 2016 an der EM in Frankreich gewann Portugal nur eines von sieben Spielen innerhalb von 90 Minuten – im Halbfinal gegen Wales – und wurde trotzdem in jenem Jahr zum einzigen Mal Europameister.
England wäre bei weitem nicht der erste Europameister, der nicht durchgehend meisterlich gespielt hat. Angesichts der Leistungen der letzten Jahre wäre der grosse Triumph trotzdem nicht gestohlen. Zwei Finals und ein Halbfinal erreichte das seit 58 Jahren auf den zweiten grossen Titel wartende England unter Southgate an den letzten vier grossen Turnieren.
«Wir spielen gegen das beste Team des Turniers und haben einen Tag weniger zur Vorbereitung. Aber wir sind immer noch hier und wir kämpfen», sagte Southgate vor dem Abschied aus Blankenhain am Samstag. Die Heimreise treten die Engländer von Berlin aus an, entweder mit dem ersten EM-Titel in der Tasche oder einer weiteren Enttäuschung in der englischen Fussball-Erinnerung.
«Gefühl der Hoffnung»
Spanien hatte dank der Art und Weise, wie es den Fussball zelebriert hat und den Geburtstagen von Nico Williams am letzten Freitag und Lamine Yamal am Samstag schon einige Gründe zu feiern. Der an diesem Turnier endgültig zum Star gewordene Yamal wünscht sich nur eines: «Gewinnen, gewinnen, gewinnen.» Es wäre ein eindrückliches Comeback von Spanien, das gut zehn Jahre lang mit seinem Nationalteam nicht mehr die ganz grossen Geschichten geschrieben hat.
Die kleine Durststrecke nach der überwältigenden Dominanz zwischen 2008 und 2012 hat womöglich die grosse Freude über die aktuelle Mannschaft erst entfacht. Mit Begeisterung verfolgt man in der Heimat die Entwicklung vom aus der Mode gekommenen Tiki-Taka zum mit Dribblings und Steilpässen garnierten Kombinationsfussball. Nationalcoach Luis de la Fuente hat nach seiner Beförderung von der U21- zur A-Nationalmannschaft die Portion Abgeklärtheit ins Team gebracht, die den Erfolg ermöglicht.
«Ich bin sehr stolz, dass uns die ganze Nation in Spanien feiert. Wir schaffen dieses Gefühl der Hoffnung. Die Menschen träumen und freuen sich», sagte de la Fuente über das schon Erreichte. Sollte am Sonntagabend in Berlin der Sieg herausspringen, würde Spanien mit vier Titeln zum Rekordsieger werden. Gegen einen finalen Triumph spricht nicht viel angesichts der Souveränität, mit der das als Aussenseiter ins Turnier gestartete Ensemble um Rodri bislang jede Schwierigkeit gemeistert hat.
Die möglichen Aufstellungen:
Spanien – England
Berlin. – Sonntag, 21.00 Uhr. – SR Letexier (FRA).
Spanien: 23 Simon; 2 Carvajal, 3 Le Normand, 14 Laporte, 24 Cucurella; 16 Rodri; 10 Olmo, 8 Ruiz; 19 Yamal, 7 Morata, 17 Williams.
England: 1 Pickford; 2 Walker, 5 Stones, 6 Guéhi; 7 Saka, 26 Mainoo, 4 Rice, 3 Shaw; 10 Bellingham, 11 Foden; 9 Kane.
Bemerkungen: Spanien ohne Pedri (verletzt). England komplett.
sda