Mit dem Titel in der Europa League hat Atalanta Bergamo im Frühling für Aufsehen gesorgt. Der Klub aus Norditalien, kommender YB-Gegner in der Champions League, überzeugt mit Konstanz und Angriff.
Hört ein Fussballfan «Nerazzurri», dürfte dieser in den meisten Fällen an Inter Mailand denken. Es gibt aber auch die anderen, die «kleinen Nerazzurri». Sie stammen aus der etwa 50 Kilometer nordöstlich von Mailand gelegenen Alpenstadt Bergamo und vertreten auf dem Fussballfeld den Klub Atalanta Bergamasca Calcio.
Benannt wurde dieser nach Atalante, einer von Bären aufgezogenen Jägerin und Sportlerin aus der griechischen Mythologie. Diese forderte von einem Verehrer, der sie gerne heiraten wollte, sie in einem Wettlauf zu schlagen. Schaffte er das nicht, brachte sie den Verliebten kurzerhand um. Ein Schicksal, das der Geschichte nach viele ereilte.
Nicht ganz so gnadenlos, aber ebenso selbstbewusst trat Atalanta Bergamo in der letzten Europa-League-Kampagne auf. Das Team setzte sich in der K.o.-Phase nacheinander gegen Sporting Lissabon, Liverpool und Marseille durch und traf im Final auf die bis dahin noch unbesiegten Leverkusener. Dort machten die Italiener ganz nach Vorbild ihrer Wappenheldin kurzen Prozess und fügten den Deutschen beim 3:0 in Dublin die einzige Saisonniederlage zu. Da blieben auch Granit Xhaka die Worte weg. Der Schweizer sagte nach dem Spiel: «Kompliment an Atalanta. That's it.»
Bei Inter Versager, bei Atalanta Erfolgsbringer
Für Atalanta war es nach dem Cupsieg 1963 erst der zweite Titelgewinn der Klubgeschichte. Dies auf eine kurzfristige Laune der Natur zurückzuführen, wäre jedoch falsch. In der Meisterschaft war das Team in den letzten sieben Saisons fünfmal in den Top 5 und nie schlechter als auf Platz 8 klassiert. Passend bezeichnete die «Süddeutsche Zeitung» den Klub im Mai als «den grössten Kleinen in Italien».
Die Erfolgsserie hat viel mit Trainer Gian Piero Gasperini zu tun, der seit 2016 an der Seitenlinie der Bergamasken steht. Ausgerechnet er, der 2011 bei den grossen Nerazzurri krachend gescheitert war. Fünf Spiele durfte Gasperini bei Inter Mailand nur coachen, ehe er im September, 46 Tage nach dem ersten Pflichtspiel, schon wieder freigestellt wurde.
Nach diesem kurzen Intermezzo schaffte Gasperini in Palermo sogar das Kunststück, innerhalb von fünf Wochen zweimal von seiner Aufgabe entbunden zu werden. Weil sein Nachfolger nicht einschlug, holte der Verein Gasperini zurück, um ihn kurz darauf ein zweites Mal rauszuwerfen. Für Gasperini folgte ein Engagement in Genua, ehe er in Bergamo bei den kleinen Nerazzurri landete und doch noch sein Glück fand.
Angriffsfussball als Markenzeichen
Gasperini wird oft als «System-Trainer» bezeichnet. Also einer, der an einer Gesamtstrategie festhält, statt sich auf die individuellen Stärken und Schwächen seiner Spieler zu fokussieren. Kritiker sagen, dass eine Mannschaft dadurch leichter auszurechnen sei und es dem Trainer selbst viel schwerer falle, spontan in das Spielgeschehen einzugreifen.
Tatsächlich lässt Gasperini seine Mannschaft seit jeher in einem offensiv ausgerichteten 3-4-3 spielen. Der konstante Erfolg, der dem Verein mitunter wertvolle Einnahmen aus dem Europacup einbrachte, gibt ihm jedoch recht. Ein Patentrezept gegen Atalanta wurde noch nicht gefunden.
Der Angriffsfussball des mittlerweile 66-jährigen Gasperini ist effektiv und spektakulär. Auch in dieser Saison stellt Atalanta mit 34 Toren die bisher beste Offensive der Liga. Umgekehrt hat die Mannschaft den Ruf, defensiv nicht immer sattelfest zu sein, was sich auch in den 16 Gegentoren widerspiegelt. Anders sieht es in der Champions League aus, in der Atalanta einer von nur zwei Klubs ist, der nach vier Runden noch kein Gegentor kassiert hat. Der andere ist... Inter Mailand.
Neues Selbstverständnis in Bergamo
Die kleinen Nerazzurri sind mit ihren Erfolgen schrittweise aus dem Schatten der italienischen Vorzeigevereine getreten. Das Manko Atalantas, die lange fehlenden Titel, wurde mit dem Triumph in der Europa League ausgemerzt. In Bergamo herrscht ein neues Selbstverständnis, das auch auf die Spieler ausstrahlt. So überraschte es nicht mehr, als im August mit Mateo Retegui einer der begehrtesten Stürmer der Serie A und Hoffnungsträger im italienischen Nationalteam nach Bergamo wechselte. Es ist das Resultat der kontinuierlichen Entwicklung hin zu einem Topklub, für den womöglich auch die unbarmherzige Atalante gern gespielt hätte.
Diese musste sich übrigens doch noch dem Schicksal fügen und trotz Schwur der ewigen Jungfräulichkeit einen Mann heiraten. Ein listiger Bewerber, der zuvor die Liebesgöttin Aphrodite um Hilfe gebeten hatte, liess beim Wettlauf mit Atalante drei goldene Äpfel fallen. Weil sie diese aufhob, konnte er das Rennen gewinnen.
List und vielleicht auch etwas göttliche Hilfe werden die Young Boys ebenfalls benötigen, wenn sie am Dienstag auf Atalanta Bergamo treffen.
sda