Als wäre es erst gestern passiertFlutopfer in Spanien taumeln zwischen Wut und Neuanfang
Von Angelika Engler, dpa/tpfi
26.1.2025 - 19:27
Vor drei Monaten wurde Spanien von nie gekannten Unwettern heimgesucht. Mehr als 230 Menschen starben. Trotz Tausender Helfer und Milliarden Euro geht es nur im Schneckentempo voran.
DPA, Von Angelika Engler, dpa/tpfi
26.01.2025, 19:27
26.01.2025, 19:41
dpa
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Nach der verheerenden Flutkatastrophe bei Valencia im Oktober 2024 sind die Schäden noch immer unübersehbar.
Trotz Tausender Helfer und Milliarden Euro gehen die Aufräumarbeiten nur im Schneckentempo voran.
Wie genau es weitergehen soll, ist auch vielen Menschen und Lokalpolitikern vor Ort nicht klar.
Ein weisser Kühlschrank liegt wie ein Mahnmal im Morast. Weiter hinten in der Strasse ein Sofa und anderer Hausrat, im nahen Flussbett Barranco del Poyo dann noch mehr Kühlschränke, Schutt und Schlamm. Hier in Paiporta und anderen Gemeinden westlich und südlich der Stadt Valencia im Osten Spaniens waren die von heftigen Regenfällen weiter oben in den Bergen ausgelösten Flutwellen am 29. Oktober 2024 durchgerast.
Fast drei Monate später wirkt es, als wäre es erst gestern passiert. Die Schäden sind so immens, dass die Arbeit Tausender Soldaten, Polizisten und Feuerwehrleute sowie die Hilfe Tausender Freiwilliger aus den ersten Wochen nicht sofort ins Auge fällt. «Also dass es hier zwei, drei Monate später noch immer so aussieht», sagt kopfschüttelnd eine Passantin auf einer der Brücken, blickt ungläubig ins Flussbett und geht weiter.
Soldaten verteilen weiter Lebensmittel und Windeln
An jenem 29. Oktober hatte ein im Mittelmeerraum durchaus übliches Wetterphänomen namens Kaltluftropfen – kurz auch «Kalter Tropfen» genannt – gewütet. Was dabei anders war: An einigen Orten in höheren Lagen fielen binnen wenigen Stunden bis zu 491 Liter pro Quadratmeter – so viel wie sonst in einem Jahr in der Region.
Die Wassermassen waren so gewaltig, dass das System der «Barrancos» – also Schluchten, die als Abflusskanäle in der zum Meer hin abflachenden Region dienen – kollabierte und die Fluten unkontrolliert durch die Strassen vieler Orte tosten. Alleine in Paiporta starben 45 der mindestens 224 Todesopfer in der Region Valencia. Acht weitere Tote gab es in Andalusien und in der Region Kastilien-La Mancha.
Ein Militärfahrzeug hält am Barranco del Poyo in Paiporta, vier Soldaten steigen aus und schauen in das mehrere Meter tiefe und breite Flussbett voll Schlamm und Hausrat. «Wir wissen auch nicht, was hier genau geschehen soll», sagt einer von ihnen. «Wir sind hier in der Nähe in Algemesí im Einsatz, verteilen dort Essen und Windeln und wollten uns mal hier die Schäden anschauen.»
Viele Entscheidungen zum Wiederaufbau noch offen
Wie genau es weitergehen soll, ist auch vielen Menschen und Lokalpolitikern vor Ort nicht klar. Hunderte Gebäude – darunter Wohnhäuser, Geschäfte und Schulen – in dem Katastrophengebiet sind derzeit nicht nutzbar, viele davon gar einsturzgefährdet. Dazu kommen Schäden an zahlreichen Brücken, Strassen, Eisenbahnlinien und anderer Infrastruktur.
Bisher stellte Spaniens Zentralregierung in Madrid 16 Milliarden Euro für Wiederaufbau, Hilfen für Unternehmen und Betroffene sowie Entschädigungen bereit. Viele Entscheidungen sind aber noch nicht getroffen, viele Fragen noch gar nicht ernsthaft angegangen: Wo kann wieder gebaut werden angesichts der Gefahr neuer Überschwemmungen in Zeiten des Klimawandels? Wie sollen die Flussbetten angepasst werden? Und gibt es überhaupt genügend Handwerker?
Spaniens Regierungschef Sánchez: Haben noch viel zu tun
Viele Gemeinden konnten mittlerweile zu einem gewissen Alltag zurückkehren. Doch in 28, darunter auch Paiporta, gilt immer noch die Notstandsstufe Zwei. Das bedeutet, dass diese Orte auf Hilfe von aussen – sprich der Zentralregierung in Madrid – angewiesen sind. Etwa 4000 Soldaten der militärischen Notstandseinheit (UME) und der übrigen Streitkräfte sind weiter im Einsatz.
Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez kam kürzlich mit den Bürgermeistern dieser 28 Gemeinden zusammen. Er räumte anschliessend vor der Presse ein, dass weiterhin viel zu tun sei. «Wir sind bisher nur die ersten Schritte gegangen», sagte der 52-Jährige.
Verwirrung um verschiedene Hilfen
«Ein Problem ist, dass sich die Politik die Verantwortung gegenseitig zuschiebt», meint Óscar Rosaleny zu dem schleppenden Tempo des Wiederaufbaus und den ständigen Schuldzuweisungen zwischen Regionalregierung und Zentralregierung. Er wohnt in Catarroja wenige Kilometer von Paiporta entfernt. In seinem Haus zeigt er an der Wand, wie hoch das Wasser im Erdgeschoss gestanden hat – die Markierung reicht ihm fast bis zur Brust.
Auch bei den zahlreichen Hilfen – darunter Entschädigungen, Kaufhilfen für verlorene Autos oder Aufbauhilfen – gebe es viele Fragen, meint der Grafikdesigner. So erschliesse sich beispielsweise nicht, warum etwa nicht so stark betroffene Nachbarn im ersten Stock bereits Geld bekämen und andere mit völlig zerstörten Häusern noch warten müssten.
Immer noch Unverständnis und Wut über späte Warnung
Samuel Romero wohnt in dem wenige Kilometer von Paiporta entfernten Aldaia. Er sah das Wasser von seiner Wohnung im dritten Stock aus unaufhörlich steigen. An jenem Tag war der Bauingenieur zu Hause geblieben, denn die staatliche Wetterbehörde hatte die höchste Warnstufe Rot ausgerufen. Nach wie vor sind viele wütend, dass an jenem 29. Oktober erst nach 20.00 Uhr die Warnung des Zivilschutzes der Regionalregierung auf den Handys erschien – da waren viele Häuser und Strassen längst überflutet. «Eine rechtzeitige und deutliche Warnung hätte 224 Menschenleben gerettet», ist er überzeugt.
Auch dass Einsatzkräfte erst Tage oder Wochen später in betroffenen Orten erschienen, empört weiter viele. Vielerorts waren Freiwillige, die mit Schaufeln oder Besen zu Fuss ankamen, die ersten Helfer. «Es müssen unbedingt Lehren daraus gezogen werden, allen voran, dass der Klimawandel mit all seinen Gefahren nicht negiert wird», meint Romero.
Trotz allem ein Hauch von Aufbruchstimmung
Wie in Paiporta wirken auch in Aldaia viele Strassenzüge wie leergefegt, vielerorts zeugen heruntergelassene Rollläden von den verschwundenen Geschäften. Doch an einem Gebäude nahe dem Barranco del Pozalet-Saleta wird fleissig renoviert. «Das war früher ein Schönheitssalon und wird wieder einer», sagt einer der Handwerker. Ob die Besitzerin denn keine Angst vor einer neuen Katastrophe habe? «Nein wieso?», meint er. «Das Leben geht weiter.»
Videos zeigen: So verheerend ist die Situation in Spanien
Schwere Überschwemmungen in der spanischen Region Valencia. Nach offiziellen Angaben mindestens 95 Menschen ums Leben gekommen. Videos auf «X» zeigen das Ausmass der Situation.