Brisante RecherchenCorona-Laborthese erscheint nun auch Wissenschaftlern plausibel
Von Andreas Fischer
9.6.2021
Kommt Sars-CoV-2 nun aus dem Labor oder nicht? – Diese Frage ist nicht nur politisch ziemlich heikel: Auch die Wissenschaft ist sich zunehmend uneins. Aktuelle Recherchen bergen Brisanz.
Von Andreas Fischer
09.06.2021, 17:14
Andreas Fischer
Etwa anderthalb Jahre nach dem erstmaligen Auftreten des neuartigen Coronavirus ist sein Ursprung noch immer nicht gesichert. Die Unklarheit über den Weg des Virus vom Tier zum Menschen sorgt aktuell wieder für politische Spannungen zwischen den USA und China.
US-Präsident Joe Biden gab kürzlich Geheimdienst-Nachforschungen in Auftrag mit dem Ziel, der Theorie nachzugehen, nach der der Erreger Sars-CoV-2 durch einen Laborunfall in Wuhan in Kontakt mit Menschen kam. Zwar weist China jede Vermutung, jeden Vorwurf, jedes Gerücht, das Virus stamme aus einem dortigen Labor empört und entschieden zurück. Zuletzt jedoch mehrten sich Hinweise, dass die Hypothese zumindest plausibel sein könnte.
WHO: «Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich»
Auch wenn es noch keine handfesten Beweise gibt: Als reine Verschwörungstheorie wird die Laborthese nicht mehr abgetan. Selbst WHO-Chef Tedros ist sich nicht sicher: «Alle Hypothesen sind auf dem Tisch und müssen weiter untersucht werden», sagte er bei der Vorstellung des Berichts eines WHO-Expertenteams, das Anfang Jahr in China nach den Ursprüngen des Virus gesucht hatte.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren zu dem Ergebnis gekommen, es sei «extrem unwahrscheinlich», dass das Virus aus einem Labor in Wuhan entwichen ist. Team-Leiter Peter Ben Embarek musste jedoch spezielle Arbeitsbedingungen bei der Untersuchung einräumen.
Der politische Druck sei gross gewesen, die Chinesen hätten nicht immer kooperiert und auch nicht alle Daten zur Verfügung gestellt. «Die Tatsache, dass die Hypothese als extrem unwahrscheinlich eingestuft wird, heisst nicht, dass sie unmöglich ist. Wir schliessen diese Tür nicht.»
Aktuelle Recherchen stützen Laborthese
Zwei aktuelle Reportagen des «Wall Street Journals» von Ende Mai und Anfang Juni sowie ein Bericht der «Vanity Fair» befeuern nun die Plausibilitätsdebatte, die mittlerweile entbrannt ist. Vor etwas mehr als einem Jahr noch hatten 27 namhafte Wissenschaftler in einem Statement in der renommierten Fachzeitschrift «The Lancet» jegliche Diskussion über die Laborthese im Prinzip im Keim erstickt.
Hypothesen, nach denen Covid-19 keinen natürlichen Ursprung hat, wurden von den Unterzeichnenden damals rundweg abgelehnt und als Verschwörungstheorie bezeichnet. Daraufhin war erst einmal Ruhe.
Auch wenn die Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiterhin an einen natürlichen Ursprung des Virus glaubt: Hundertprozentig sicher ist sich die Forschergemeinde mittlerweile nicht mehr. Auf jeden Fall ist sie wieder ergebnisoffener. Eine Gruppe angesehener Forscher betonte in der Fachzeitschrift «Science», dass sowohl ein natürlicher Ursprung des Virus als auch die Laborthese plausibel seien – ein Zeichen, dass die Laborthese mittlerweile ernst genommen wird.
Zumal auch US-Chefvirologe Anthony Fauci zuletzt seine Meinung revidierte: Hatte er vor einem Jahr noch relativ deutlich gesagt, dass das Virus wahrscheinlich auf natürliche Art und Weise entstanden sei, ist er sich nun nicht mehr sicher, wie «Der Spiegel» berichtet.
Wuhan-Institut führend bei Coronaviren
Der deutsche Virologe Christian Drosten räumte zuletzt ein, dass es zumindest technisch im Bereich des Möglichen liege, dass das Virus versehentlich oder absichtlich in einem Labor erzeugt worden sei. Allerdings: «Wenn jemand auf diese Weise Sars-2 entwickelt hätte, dann würde ich sagen, der hat das ziemlich umständlich gemacht.» Für Drosten ist die chinesische Pelzindustrie die plausibelste Quelle des Virus.
Die Idee eines Forschungsunfalls sei für Drosten «ausgesprochen unwahrscheinlich: Wenn überhaupt, dann käme so etwas wohl nicht aus dem Wuhan-Virologie-Institut. Das ist ein seriöses akademisches Institut». Das Wuhan Institute of Virologe (WIV) gilt als Chinas führende Forschungseinrichtung bei Fledermaus- und anderen Coronaviren. Dort soll es Asiens grösste Sammlung derartiger Erreger geben.
Das Labor in Wuhan gehört zu denjenigen mit der höchsten Bio-Sicherheitsstufe. Weltweit gibt es 59 solcher Hochsicherheitslabore. Diese sind so konzipiert, dass dort die gefährlichsten Viren und Bakterien erforscht werden können, welche schwere Erkrankungen verursachen können und gegen die es keine bekannten Gegenmittel und Impfstoffe gibt.
Der Einsatz von Hochleistungsluftfiltern verhindert, dass Viren entweichen können. Ausserdem werden alle Abwässer solcher Einrichtungen mit Chemikalien oder Hitze behandelt. Wer dort arbeitet, benötigt eine spezielle Schulung und muss Schutzanzüge tragen. Verbindliche internationale Standards für das sichere und verantwortungsvolle Arbeiten gibt es unterdessen nicht.
Laborunfälle gibt es immer wieder
Und ja: Unfälle, die übrigens zu 70 Prozent auf menschliche Fehler zurückzuführen sind, kommen mitunter auch in Top-Laboren vor. Häufiger sind sie aber in Einrichtungen mit niedrigerem Sicherheitslevel, von denen es weltweit Tausende gibt. Das H1N1-Virus, das 1918 die Grippe-Pandemie ausgelöst hat, entwich 1977 aus Laboren in der Sowjetunion und China, bevor es sich weltweit ausbreitete.
2004 steckten sich zwei studentische Mitarbeiter des Nationalen Instituts für Virologie in Peking mit dem Sars-Erreger an und gaben ihn weiter: Die Mutter von einem der beiden starb. 2014 wurden beim Umzug eines Büros der US-Arzneimittelbehörde FDA einige Phiolen mit Pockenviren entdeckt.
In der Debatte um den Ursprung der Corona-Pandemie steht nicht nur China am Pranger. Auch die Nationalen Gesundheitsinstitute der USA (NIH) werden kritisiert. Einige republikanische Politiker werfen ihnen vor, sogenannte «Gain of function»-Forschung mit Coronaviren in Wuhan gefördert zu haben.
Riskante Forschung am Virus
Bei der «Gain of function»-Forschung verändern Wissenschaftler Erreger so, dass diese leichter übertragbar, tödlicher oder schwerer mit Medikamenten und Impfstoffen zu bekämpfen sind. Auf diese Weise wollen sie herausfinden, wie die Erreger bei entsprechenden Mutationen in natürlicher Umgebung besser bekämpft werden können.
Über Nutzen und Risiken dieses Forschungsansatzes wird seit Langem erbittert gestritten. Einen Höhepunkt erreichte die Kontroverse, als 2011 zwei Forscherteams Vogelgrippe-Viren so veränderten, dass sie zwischen Säugetieren übertragbar sind.
Der Harvard-Epidemiologe Marc Lipsitch warnt, ein auf diese Art geschaffener Virusstamm könne einen Labor-Mitarbeiter befallen und letztlich eine ganze Pandemie verursachen. «Diese Forschung ist nicht notwendig und trägt nicht zur Entwicklung von Arzneien oder Impfstoffen bei», argumentiert auch Richard Ebright von der Rutgers University.
In den USA wurde Forschung an Grippeviren und Coronaviren mit dieser Methode ab 2014 ausgesetzt, ist aber seit 2017 wieder erlaubt. Inzwischen muss ein Expertenausschuss jeden Fall einzeln vorab prüfen.