«Keine Nebenwirkungen»Als es das Heroin noch beim Apotheker gab
Von Philipp Dahm
26.6.2021
Heute vor 125 Jahren wurde erstmals Heroin synthetisiert: Bayer brachte den Stoff gegen Husten und anderen Leiden auf den Markt. Es wurde sogar für die bedenkenlose Behandlung Morphium-Süchtiger empfohlen.
Von Philipp Dahm
26.06.2021, 13:46
Philipp Dahm
»Herr Doktor, die Pulver, die Sie mir gaben, tun sehr gut», bekundet der Patient. Der Arzt schreibt, dass Präparat scheine keinerlei Nebenwirkungen zu haben. Und: «Eine Angewöhnung scheint nicht einzutreten.» Die Rede ist vom Heroin, das heute vor 125 Jahren zum ersten Mal synthetisch hergestellt worden ist und fortan im industriellen Stil produziert wird.
Gelungen ist das an jenem 26. Juni 1996 dem Chemiker Felix Hoffmann. Geboren wird der Deutsche in Ludwigsburg in Baden-Württemberg: Er wird Apotheker, kommt erstmals in die Schweiz, studiert Pharmazie und Chemie und schliesst 1893 bei Professor Eugen Bamberger vom Zürcher Polytechnikum ab: Zum Doktorvater steht er Zeit seines Lebens in Kontakt.
Nach dem Studium wird Hoffmann direkt eingestellt: Am 1. April 1994 beginnt er im Labor der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. – besser bekannt als Bayer. Der Leverkusener Weltkonzern von heute steckt damals noch in seinen Wuppertaler Kinderschuhen. Sechs Jahre vor Hoffmanns Amtsantritt beschliesst Bayer die Chemie-Abteilung deutlich auszubauen.
Morpheus ruft
Denn neben Farben entwickelt sich zu jener Zeit das Geschäft mit Arzneimitteln, die die Wissenschaft entdeckt – auch wenn die Funde oft auf bereits bekannte Mittel fussen. Ein Beispiel dafür ist Opium: Der milchige Saft, der durch das Anritzen unreifer Mohn-Samenkapseln gewonnen wird, ist schon seit Jahrtausenden als Schmerzmittel bekannt.
Im 16. Jahrhundert gewinnt Paracelsus daraus das Mittel Laudanum, das aus im Alkohol gelösten Opium besteht. Eine ungute Kombination: Alkohol und das Opiat bergen in Verbindung die Gefahr, dass der Körper im Rausch die Atmung einstellt. Doch Laudanum half auch bei Husten, und es führte ausserdem zu Verstopfung: Bei früher lebensbedrohlichem Durchfall eine segensreiche Nebenwirkung.
Doch auch das Suchtpotenzial des Schlafmohn-Produkts bleibt nicht verborgen – und wer bedürftig und/oder süchtig ist, braucht stets mehr, um dieselbe Wirkung zu erzielen. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts gelingt es, die aktiven Bestandteile des Opiums zu isolieren: Das Mittel, dass noch beruhigender ist und noch schläfriger macht, wird nach dem griechischen Gott der Träume benannt: Morpheus.
Aspirin und Heroin aus einer Hand
Morphium feiert anfangs einen triumphalen Einzug in Medizin und Gesellschaft und verbreitet sich in allen Schichten: Leider wirken neben den erhofften Wirkung auch die Nachteile stärker – und das Problem verschärft sich, nachdem die Süchtigen erkennen, dass ihre Droge drei Mal stärker wirkt, wenn sie sie injizieren.
In diesem Umfeld ist Bayer auf der Jagd nach neuem Stoff. Es sind drei Produkte, die der Firma um die Jahrhundertwende einen Schub verpassen: ein Antibiotikum, Aspirin und dann noch das Mittel, dass das Morphium ersetzen soll – scheinbar ohne denselben Nebenwirkungen. Zumindest dachte das Team um Felix Hoffmann das zunächst.
Der Deutsche baut seine Forschung auf die Vorarbeit des britischen Chemikers Charles Wirght von 1873 auf und synthetisiert 23 Jahre später aus Morphin das Diacetylmorphin, das sich Bayer als 1898 Heroin patentieren lässt. Ein Jahr zuvor stösst Hoffmann auch noch auf die Acetylsalicyl-Säure: Aspirin und Heroin sind von demselben Mann entdeckt worden.
«Ungünstige Nebenwirkungen»? Fehlanzeige
Das Heroin wird nach seiner Sythethisierung an einer Versuchsgruppe getestet, was keine Behörde, sondern der Werksarzt von Bayer überwacht. Die Dokumentation veröffentlicht Theobald Floret 1898 in den Therapeutischen Monatsheften des Berliner Springer-Verlags, aus denen auch schon oben zitiert ist.
«Einer von [den Brustschmerz-]Patienten erklärte mir, dass ihm bisher keine Medicin so gut gethan habe wie mein Pulver», notiert er über das «Di-Essigsäure-Ester des Morphins». Und: «Ungünstige Nebenwirkungen scheinen dem Präparat nicht anzuhaften.» Das Problem: durch die orale Einnahme ist der berauschende Effekt nicht so extrem wie bei der Injektion.
Und so kommt es, dass Heroin als reguläres Medikament auf den Markt kommt – und sogar explizit für die Behandlung von Morphinsucht angepriesen wird. Auch deshalb dauert es lange, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Heroin noch viel abhängiger macht als Morphium: Mit jedem Gebrauch müssen Süchtige die Dosis verdoppeln.
Verbot nach erstem Rausch
Ein Verbot wird in den USA erstmals auf der Opiumkonferenz 1912 diskutiert und in den folgenden Jahren steigt der politische Druck auf Bayer. Nachdem mehr und mehr Staaten nationale Verbote von Heroin erlassen, stellt der Konzern 1931 die Produktion ein.
Der Markt wird nahtlos von der Dunkelwelt übernommen: Die French Connection schifft in den 30ern die Rohstoffe nach Frankreich, wo sie weiterverarbeitet und dann zum Verkauf in die USA geschickt werden. Bis heute ist das Geschäft in Gangsterhand: Wer an die mehr als vitale Drogen-Szene am Zürcher Platzspitz in den 80ern und 90ern erinnert, wird nicht fassen können, dass Heroin ein populäre Medikament der Apotheke war.
Und sein Erfinder Hoffmann? Dem scheinen seine Entdeckungen kein Glück zu bringen. Er steigt zwar 1899 zum Leiter der kaufmännisch Abteilung des Pharmazie-Arms auf, doch sein Aspirin-Patent wird angefochten: Sein früherer Vorgesetzter Arthur Eichengrün fechtet es an – ein jahrelanger Rechtsstreit entbrennt.
Hoffmann bleibt bis zu seinem Ruhestand 1929 bei Bayer. Er zieht sich anschliessend in die Schweiz zurück und stirbt am 8. Februar 1946 in Lausanne – zurückgezogen und ohne Nachkommen, heisst es.