Auswirkungen der PandemieArbeitnehmer sind so gestresst wie nie – und selber schuld?
Von Sven Hauberg
26.10.2021
Das Stress-Level von Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist auf ein Allzeithoch geklettert, zeigt eine Umfrage. Das hätten sie sich selber eingebrockt, finden die Arbeitgeber.
Von Sven Hauberg
26.10.2021, 18:11
27.10.2021, 07:41
Sven Hauberg
«Noch nie war Stress so verbreitet in der Arbeitswelt»: Die Analyse von Adrian Wüthrich, dem Präsidenten von Travail.Suisse, ist eindeutig. Der Arbeitnehmer-Dachverband hat einmal mehr die Arbeitswelt unter die Lupe genommen und am Dienstag sein «Barometer Gute Arbeit 2021» vorgestellt.
Generell, so die Studie, seien die Arbeitnehmenden hierzulande zwar etwas zufriedener mit ihren Arbeitsbedingungen als im vergangenen Jahr. Allerdings hat sich die Lage in einigen Bereichen verschärft – und vor allem Frauen litten unter den Auswirkungen der Pandemie.
Der Studie zufolge ist fast jeder zweite Arbeitnehmende oft oder sehr häufig von der Arbeit gestresst. Und fast jeder und jede erlebt zumindest hin und wieder Stress am Arbeitsplatz.
«Stress entsteht, wenn die Arbeitsmenge zu hoch ist», erklärt Wüthrich. «Hier macht sich der wirtschaftliche Aufschwung bemerkbar – auf Kosten der Gesundheit der Arbeitnehmenden.» Die Beschäftigten müssten immer mehr arbeiten, häuften Überstunden an und machten zu kurze oder gar keine Pausen.
All das, so Travail.Suisse, führe zu Burnouts oder wirke sich anderweitig negativ auf die Gesundheit aus. Ein Trend, der anhalten werde. Die Arbeitgeber*innen müssten deshalb die Arbeitsintensität der Angestellten senken, fordert Wütherich.
«Stress ist eine subjektive Wahrnehmung», sagt die Arbeits- und Organisationspsychologin Rita Buchli zu blue News. «Somit spielt es keine Rolle, ob tatsächlich objektiv die Belastungen zunehmen oder nicht. Wenn die Wahrnehmung der Person das so spiegelt, dann nimmt der effektive Stress zu.» Allerdings habe in der Pandemie der Stress tatsächlich objektiv zugenommen, weil neue Belastungen auf die Arbeitnehmer*innen zugekommen seien.
«Selbstverantwortung der Arbeitnehmer» gefragt
Die Belastung am Arbeitsplatz, so der Befund der Untersuchung von Travail.Suisse, wirke sich oft auch auf das Privatleben der Schweizer*innen aus. Fast ein Drittel aller Arbeitnehmer*innen sei nach der Arbeit regelmässig zu erschöpft, um sich noch um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern.
«Die Vereinbarkeit zwischen Beruf und dem privaten Bereich wie Familie, Weiterbildung, Hobbys und Milizarbeit bereitet den Arbeitnehmenden zunehmend Mühe», analysiert Travail.Suisse-Präsident Wüthrich.
Zu einer gänzlich anderen Einschätzung kommt die Arbeitgeberseite. «Stress am Arbeitsplatz», sagt Fredy Greuter, Sprecher des Schweizerischen Arbeitgeberverbands auf Anfrage von blue News, sei «kein akutes Problem». Greuter verweist in dem Zusammenhang auf eine Studie der Universität Genf aus dem Jahr 2019, die zeige, dass die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmenden sehr zufrieden oder zufrieden mit den Arbeitsbedingungen sei.
«Es ist nicht allein die Arbeitszeit, die entscheidet»
Der Arbeitgeberverband sieht die Ursachen für negativen Stress vor allem bei den Arbeitnehmer*innen selbst. «In der gegenwärtigen Multioptionsgesellschaft mit ihren vielen Freiheiten entsteht Stress häufiger durch Fehlverhalten im Privaten», sagt Greuter. Als Beispiele nennt er zu wenig körperliche und geistige Erholung, etwa Schlafmangel und «Onlinesucht», längere Pendelwege zur Arbeit und «die allgemeine Beschleunigung in verschiedensten Lebensbereichen».
Greuter weiter: «Alle diese Einflüsse liegen ausserhalb des Arbeitsplatzes, können aber in das Unternehmen hineingetragen werden.» Im Umgang mit negativem Stress seien nicht nur die Arbeitgeber gefragt; vielmehr gebe es «auch eine Selbstverantwortung der Arbeitnehmer». Ausserdem, so Greuter, gebe es «wissenschaftlich keinen Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Burn-Out-Häufigkeit».
«Es ist nicht allein die Arbeitszeit, die entscheidet», bestätigt auch Buchli, die Mitglied in der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeits- und Organisationspsychologie (sgaop) ist. «Aber es ist mir wichtig zu sagen, dass Arbeitgeber das Stresserleben nicht einfach auf den Mitarbeitenden abwälzen und sagen: Du bist nicht belastbar. Sie müssen selbstkritisch hinschauen und auch tatsächlich die Ressourcenseite stärken, sonst kommt dann plötzlich das böse Erwachen, wenn die Mitarbeitenden ausfallen.»
Stress, so Buchli, sei immer dann gefährlich, wenn er chronisch werde. «Dann können Erkrankungen wie Schäden des Herz-Kreislauf-Systems, Depressionen oder die Schwächung des Immunsystems die Folge sein.»
«Es sind die Frauen, die die Rechnung bezahlen»
Von den Entwicklungen am Arbeitsplatz sind Männer und Frauen laut Travail.Suisse unterschiedlich stark betroffen. So geben Männer generell ein eher positives Stimmungsbild wieder – ihnen kommt etwa der wirtschaftliche Aufschwung zugute, der Ängste vor einem Jobverlust in den Hintergrund drängt.
Frauen hingegen erleben den Arbeitsmarkt völlig anders: «Während die Männer als Gewinner der Pandemie bezeichnet werden können, gehören die Frauen zu den Verliererinnen», bilanziert Wüthrich. Abhilfe schaffen könnten etwa ein Recht auf einen Kita-Platz für mindestens zwei Tage in der Woche und höhere Löhne für Frauen.
Und während Männer etwa durchs Homeoffice profitieren würden, «sind es die Frauen, die die Rechnung bezahlen», sagt die Nationalrätin und Vizepräsidentin von Travail.Suisse, Léonore Porchet. Frauen müssten neben der bezahlten Arbeit auch noch die Hausarbeit verrichten und sich oftmals auch um die Pflege von Angehörigen kümmern. «Die Covid-19-Krise hat die Diskriminierung, die das Leben und die Karriere von Frauen bereits vorher stark beeinträchtigt hat, noch verstärkt», so Porchet.
Was tun, wenn die Arbeit zu stressig ist? «Sie können auf verschiedenen Ebenen ansetzen», erklärt die Expertin Buchli. So könne man das Gespräch mit dem Vorgesetzten oder seinem Team suchen oder auch «bei der persönlichen Stressbewältigung ansetzen» – etwa durch regelmässig Entspannung und Bewegung. «Dies bewirkt den Abbau der Stresshormone», so Buchli.