Ist Karl May rassistisch? «Winnetou» und die Debatte um kulturelle Aneignung

dpa/Andrea Sosa, Denis Düttmann und Sebastian Schlenker

28.8.2022 - 18:00

Szene aus dem Film «Der junge Häuptling Winnetou» mit Mika Ullritz.
Szene aus dem Film «Der junge Häuptling Winnetou» mit Mika Ullritz.
Bild: dpa

Die Auslieferung von Winnetou-Büchern wird gestoppt, weisse Reggae-Musiker mit Dreadlocks sollen nicht mehr auftreten. Immer wieder ist in den Debatten von kultureller Aneignung die Rede. Aber was ist das eigentlich?

«Der junge Häuptling Winnetou» sorgt dieser Tage für ordentlich Aufsehen und erhitzte Gemüter – vor allem in den Sozialen Medien.

Der Grund: Die Firma Ravensburger hatte entschieden, mehrere Kinderbücher wegen Rassismus-Vorwürfen aus dem Verkauf zu nehmen. Hunderte Instagram-Nutzer äusserten daraufhin ihr Unverständnis und bezichtigten die Firma der Zensur oder des Einknickens. Daneben gab es auch Unterstützung für die Entscheidung.

Die vor allem für ihre Spiele und Puzzle bekannte Firma aus Ravensburg hatte Mitte August angekündigt, die Auslieferung der beiden Bücher «Der junge Häuptling Winnetou» zu stoppen und aus dem Programm zu nehmen. In einem Instagram-Post begründete die Firma dies mit dem Feedback der Nutzer, das gezeigt habe, «dass wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben».

In den sozialen Netzwerken hat die Entscheidung der Firma Ravensburger, die «Winnetou»-Kinderbücher aus dem Programm zu nehmen, heftige Diskussionen zwischen Befürwortern und Kritikern der Entscheidung ausgelöst.

Die Kontrahenten beschimpfen sich gegenseitig als Rassisten und «woke» Winnetou-Killer. Das Karl-May-Museum in Radebeul sprach von einer «Winnetou-Cancellation». Dem einen oder anderen würde man mit Karl May gerne zurufen wollen: «Das Bleichgesicht hüte seine Zunge!» Dabei ging es doch eigentlich nur um einen Kinderfilm mit dem unschuldigen Namen «Der junge Häuptling Winnetou». Begleitend dazu wollte die Firma Ravensburger zwei Bücher auf den Markt bringen, zog diese dann aber zurück, als ihr klar wurde, «dass wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben». Seitdem steht der Vorwurf der kulturellen Aneignung im Raum. Und schlimmer noch: der des Rassismus.

Bücher und Filme bedienen sich Klischees

Unter kultureller Aneignung versteht man die Übernahme von Ausdrucksformen aus einer anderen Kultur, meist der einer Minderheit. Carmen Kwasny, die Vorsitzende der «Native American Association of Germany», kritisiert in einem Interview im Deutschlandfunk Kultur, dass «Der junge Häuptling Winnetou» zahlreiche Klischees transportiere, zum Beispiel bei den Requisiten mit Tierschädeln und Federn. «Bei uns sieht man immer nur Tipis, Lederkleidung, Federschmuck und dieses fürchterliche Indianergeheul», beklagt sie. «Jedesmal aufs Neue: «Woowoowoowoo!» Uns sind da Dinge passiert, dass wir Gäste hatten aus den Vereinigten Staaten, und die hatten ihre Tracht an, und Erwachsene sind an uns vorbeigelaufen mit: «Woowoowoowoo!» Das Geräusch gibt es gar nicht.»

Dass die amerikanischen Ureinwohner bei Karl May alles andere als realistisch dargestellt werden, ist unstrittig. Das geht schon bei Winnetou selbst los: Von der Beschreibung her würde man ihn bei den bisonjagenden Sioux in den Weiten der nordamerikanischen Prärie verorten. Doch bekanntlich ist er der Häuptling der Apachen. Die aber lebten in einer ganz anderen Klimazone an der Grenze zu Mexiko.

Nun war Karl May allerdings kein Wissenschaftler, sondern ein Romanschriftsteller. Seine grösste Gabe war seine Fantasie. Als einer der ersten erfand er sich als Kunstfigur neu, schuf ein mediales Ich – den mythischen Old Shatterhand, der immer wieder in den Wilden Westen reist, um dort mit seinem Blutsbruder Winnetou Abenteuer zu bestehen. Das Publikum hing an seinen Lippen, wenn er erzählte, wie er dort neulich wieder 35’000 indianische Krieger befehligt habe – «Kriecher», wie er als echter Sachse wohl gesagt haben dürfte. Seine Bücher waren vielleicht weniger ein Abbild Amerikas als ein Spiegel deutscher Sehnsüchte im Zeitalter der Eisenbahnen und Dampfschiffe.

«Romantisierendes Bild mit vielen Klischees»

Ein Sprecher von Ravensburger teilte am Montag auf Anfrage mit, man habe die Entscheidung sorgfältig abgewogen. Bei den genannten Winnetou-Titeln sei man nach Abwägung verschiedener Argumente zu der Überzeugung gelangt, dass angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit, der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, hier ein «romantisierendes Bild mit vielen Klischees» gezeichnet werde. Die Kritik hatte sich zunächst vor allem an der gleichnamigen Verfilmung entzündet, weil der Film rassistische Vorurteile bediene und eine kolonialistische Erzählweise nutze. Der Film kam am 11. August in die Kinos.

Immer wieder ist in der aktuellen Debatte auch von kultureller Aneignung die Rede. Auch Ravensburger selbst spricht davon in seinem Instagram-Post: «Unsere Redakteur*innen beschäftigen sich intensiv mit Themen wie Diversität oder kultureller Aneignung», heisst es dort. Aber was ist das eigentlich?

Mit kultureller Aneignung ist gemeint, dass Menschen sich einer Kultur bedienen, die nicht ihre eigene ist, zum Beispiel durch Musik oder Bekleidung. Kritisiert wird vor allem, wenn Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sich einzelner Elemente der Kultur einer Minderheit bemächtigen, sie kommerzialisieren und aus dem Zusammenhang reissen.

Jüngstes Beispiel: In Bern wurde ein Konzert der Band Lauwarm abgebrochen, weil sich einige Besucher daran störten, dass sie jamaikanische Musik spielte und die weissen Mitglieder der Band teils afrikanische Kleidung und Dreadlocks trugen. Zuvor hatte die Bewegung Fridays for Future die weisse Musikerin Ronja Maltzahn, die bei einer Demonstration in Hannover auftreten sollte, wegen ihrer Dreadlocks ausgeladen.

Wem gehört die Kultur?

Während die Debatte im deutschsprachigen Raum noch relativ neu ist, tobt sie in den USA schon seit Jahren. Die US-Juristin Susan Scafidi schreibt in ihrem Buch «Who Owns Culture?» aus dem Jahr 2005: «Kulturelle Aneignung, das ist: Wenn man sich bei dem intellektuellen Eigentum, dem traditionellen Wissen, den kulturellen Ausdrücken oder Artefakten von jemand anderem bedient, um damit den eigenen Geschmack zu bedienen, die eigene Individualität auszudrücken oder schlichtweg: um daraus Profit zu schlagen.»

In Mexiko gibt es nun sogar ein Gesetz, um das zu verhindern. Wer kulturelles Erbe ohne Zustimmung reproduziert, kopiert oder imitiert, kann künftig mit hohen Geldstrafen oder sogar bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Dadurch soll das kollektive geistige Eigentum der Urvölker geschützt werden, was international nicht einfach durchzusetzen ist. Luxusmodemarken wie Carolina Herrera und Louis Vuitton sowie globale Fast-Fashion-Ketten hatten zuvor mehrmals die Muster indigener Textilien für ihre Produkte kopiert – ohne Absprache mit den Gemeinden und ohne Zahlung.

Kulturelle Aneignung ist auch Wertschätzung

Die deutsche Ethnologin Susanne Schröter findet die Diskussion um kulturelle Aneignung, wie sie derzeit geführt wird, problematisch. «Die Skandalisierung der kulturellen Aneignungen weist eine Reihe von Absurditäten auf. Eine betrifft die Folgen, die sich ergeben, wenn man die geforderten Nutzungsbeschränkungen zu Ende denkt. Dann müssten bei jedem Gegenstand, jedem Stil, jeder Form kulturellen Ausdrucks die Urheber ausfindig gemacht und ihr Gebrauch auf diese Urheber beschränkt werden», sagt die Professorin der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität.

Kulturelle Aneignung ist für die Wissenschaftlerin grundsätzlich eher etwas Positives. «Menschen haben stets Dinge von anderen übernommen, wenn sie diese für sinnvoll erachtet haben. Um es auf den Punkt zu bringen, ist die gesamte Menschheitsgeschichte eine Geschichte kultureller Aneignungen, ohne die es keine Entwicklung gegeben hätte», sagt Schröter. «Dazu kommt, dass Aneignung stets eine gewisse Wertschätzung beinhaltet. Wenn man eine Gruppe von Menschen zutiefst ablehnt, wird man von ihnen nichts übernehmen. In einer Welt, die allein durch die sich beschleunigende Globalisierung immer vielfältiger wird, ist kulturelle Aneignung wohl die wichtigste Kulturtechnik, die ein friedliches Zusammenwachsen möglich macht.»

dpa/Andrea Sosa, Denis Düttmann und Sebastian Schlenker