Das neue Jahr beginnt viel zu warm – was die Pflanzenwelt aus dem Tritt bringt. Sollten solche Januar-Temperaturen zur Norm werden, hätte das weitreichende Folgen.
Über 20 Grad in Delsberg und Neujahrs-Temperaturrekorde an insgesamt 44 Messstationen: Der Jahreswechsel 2022/23 war laut SRF-«Meteo» der wärmste seit Messbeginn – «und dies, obwohl schon der Jahreswechsel 2021/22 so warm war wie noch nie.» Was, wenn sich dieses Muster wiederholt? Dann gerät in der Natur einiges durcheinander.
Das bekommen gerade Pollen-Allergiker*innen zu spüren: Haselpollen fliegen viel früher durch die Luft als normal. Hinter manchem vermeintlichem Pfnüsel könnte in Wahrheit bereits Heuschnupfen stecken, teilte das Allergiezentrum Schweiz am Dienstag mit. Betroffene sollten ihre Medikamente griffbereit halten.
Die Hasel blüht fast einen Monat zu früh
Meteoschweiz, das Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie, bestätigt: Schon ab dem 28. Dezember seien die ersten Haselpollen registriert worden, wird Regula Gehrig, Biometeorologin bei Meteoschweiz, in dem Communiqué zitiert. Zum Jahreswechsel sei dies nördlich der Alpen bisher kaum einmal vorgekommen. Ab dem 2. Januar hätten dann die meisten Messstationen im Flachland «bereits mässige Belastungswerte» angezeigt.
Die Hasel blüht damit 20 bis 30 Tage früher als im Durchschnitt der Jahre 1990 bis 2020. In kalten Wintern kann sich der Beginn der Blüte sogar bis in den März verzögern, wie Meteoschweiz in einem am Dienstag veröffentlichten Blog-Eintrag festhält. Und der Pollenflug dürfte in den nächsten Tagen vielerorts anhalten, denn dafür reichten der Hasel Temperaturen von über fünf Grad und etwas Sonne.
Auch die Erle hat laut Meteoschweiz bereits zu blühen begonnen. Hier habe man am Neujahrswochenende schwache bis mässige Pollenkonzentrationen verzeichnet.
Blätter als Nährstoff-Booster: Wohin das Laub am Boden verschwindet
Wenn die Bäume im Herbst ihre Blätter abwerfen, beginnt ein biologischer Kreislauf, der dafür sorgt, dass unsere Böden fruchtbar bleiben. Durch klimabedingte Trockenperioden gerät dieser Prozess in Gefahr.
23.11.2022
Freilich sind einzelne Wetterereignisse mit Vorsicht zu geniessen. Doch der Trend zur globalen Erwärmung hält an. Sollte der ungewohnt milde Januar zur Norm werden, hätte das Folgen für die heimische Fauna und Flora, sagt Bruno Baur, emeritierter Professor für Naturschutz-Biologie der Universität Basel. So benötigten etwa Obstbäume eine bestimmte Anzahl an kalten Tagen, bevor sie blühen, sagte Baur in der SRF-Radiosendung «Heute Morgen» vom Dienstag. Falle diese Kältephase weg, würden die Bäume später und auch nicht mehr gleichzeitig blühen.
Davon werde auch der Pollenaustausch beeinträchtigt, der von den Bienen abhänge. «Das reduziert die Ernte», sagt der emeritierte Professor, «und im wirklich schlimmsten Fall gibt es keine Blütenbildung mehr.»
Raupen sind früher dran, Vögel bleiben hungrig
Bäume im Wald dagegen könnten wegen der milden Temperaturen früher Triebe bilden – die Raupen, die sich von den Blättern ernährten, würden dann ebenfalls früher schlüpfen. Die Zugvögel, die sich von den Raupen ernähren und diese an ihre Jungen verfüttern, schauten dagegen in die Röhre: «Sie kommen zu spät», sagt Baur.
Dies könnte zu einem Auseinanderdriften der Ökosysteme führen. Darin sieht der Experte die schlimmste Folge für die hiesigen Bestände: Obstbäume könnten weniger Früchte tragen, Vogelpopulationen schrumpfen.
Wenigstens die Bären in Arosa scheinen sich von den aktuellen Wetterkapriolen nicht aus dem Tritt bringen zu lassen: Die Bärenland-Webcams zeigten Sam, Jamila, Meimo und Amelias am Dienstagabend friedlich in ihren Schlafboxen liegen. «Sie befinden sich in der Winterruhe und sind nicht in der Aussenanlage zu sehen», bestätigt Pascal Jenny, Präsident der Stiftung Bären Arosa, auf Anfrage. «Mal schauen, wie es weiter geht.»