3. Oktober 1990Die Welt aus den Fugen – eine Erinnerung an die Deutsche Einheit
Von Andreas Fischer
3.10.2020
Wer bin ich, und wenn ja woher? Bei einem damaligen Teenager sorgten die Ereignisse rund um den 3. Oktober 1990 für Verwirrung. Mittlerweile weiss er, was die Wiedervereinigung Deutschlands für ihn persönlich bedeutet.
In Deutschland gibt es Oberbayern, Pfälzer und Franken, Hessen und Baden, Rheinländer und Westfalen – und es gibt Ostdeutsche. Keine Sachsen, Thüringer, Anhalter, Lausitzer, Mecklenburger oder Vogtländer. Nein, Ostdeutsche. Ich bin offensichtlich einer von ihnen. Aufgewachsen in einer kleinen Stadt in der Nähe der innerdeutschen Grenze. Dort, am Zonenrand, konnte man vor 1990 nicht in alle Dörfer fahren, ohne einen Passierschein zu haben.
Als Deutschland Ost und Deutschland West schon 15 Jahre lang nur noch Deutschland waren, bin ich vom Studium in Leipzig zum Arbeiten nach München gezogen. Ich wusste es nicht, aber die Mauer schleppte ich wohl mit. Ich habe in München viele Franken kennengelernt, Ur-Münchner, einen Aachener, eine Freiburgerin, auch ein Allgäuer war dabei.
Die Kollegen und Kolleginnen meinten das nicht böse oder abschätzig: Aber ich war der Ossi (eine Kollegin aus Sachsen war es auch), und das hat mich gewundert. Osten und Westen sind für mich Himmelsrichtungen. Auch heute werden mir noch Fragen zu ostdeutschen Befindlichkeiten gestellt, oder ich werde um Texte gebeten, weil «‹der Osten› ja grad ein noch grösseres AfD-/Neonazi-Problem als ‹der Westen›» hat. «Du bist doch Ossi», heisst es dann.
Nein, das bin ich nicht. Ich kenne mich nicht aus in Rostock, Erfurt, Hoyerswerda. Ich bin gebürtiger Altmärker, aufgewachsen in der Magdeburger Börde und – mit Unterbrechung – seit mehr als 20 Jahren Leipziger.
Am Tag der Wiedervereinigung Deutschlands war ich 15 Jahre, einen Monat und sieben Tage alt. 30 Jahre ist das jetzt her. Ich habe doppelt so lange im vereinten Deutschland gelebt wie in der DDR. Ich fühle mich nicht als Ossi.
Wie ist das mit der «inneren Einheit»?
Heute feiert Deutschland 30 Jahre Deutsche Einheit. Ein geplantes grosses Bürgerfest in Potsdam wurde wegen der Coronapandemie abgesagt, stattdessen präsentieren sich die 16 deutschen Bundesländer mit einer Freiluft-Ausstellung. Mehr ist gerade nicht drin, und das finde ich traurig.
«Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört», hatte der frühere deutsche Bundeskanzler Willy Brandt, der zur Zeit des Mauerbaus 1961 West-Berlins Regierender Bürgermeister war, gleich nach dem Mauerfall gesagt. Ich bin mir nicht sicher, wie es um die dieser Tage wieder viel beschworene «innere Einheit» eigentlich steht. Ich muss darüber nachdenken.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, jedenfalls erinnert zum Jubiläum an die «harten Brüche», die die Wiedervereinigung für viele Bürger in den neuen Ländern bedeutete. «Die Ostdeutschen sind ja in einer Weise durchgerüttelt worden, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr geschehen ist.»
Die ganze Welt aus den Fugen
Das kann ich bestätigen. Ich war 14, als meine Welt damals im Herbst 1989 komplett aus den Fugen geriet. In der Schule versuchten die Lehrer und Funktionäre noch eine Zeitlang, die sich anbahnende Wende zu ignorieren und machten weiter, als würde nichts geschehen. Bis zum Abend des 9. November und der legendären Pressekonferenz von Günther Schabowksi («Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.»).
Die Grenzen waren offen, am nächsten Tag war von 17 Schülern meiner Klasse nur noch eine Handvoll da. Der Rest schaute sich zum ersten Mal in der BRD um.
Mich hat in dieser Zeit verwirrt, dass es plötzlich alle meine Klassenkameraden schon immer (besser) gewusst hatten. Schliesslich hatte vorher niemand etwas gesagt. Dass die Lehrer, vor allem die für die «richtige» politische Bildung zuständigen, ebenso plötzlich enttäuscht waren von der Partei, deren Doktrin sie jahrelang predigten – geschenkt.
Fanta statt Himbeerbrause
Jedenfalls ging alles sehr schnell damals, zu schnell für mich. Am 18. März 1990 gab es die ersten freien Wahlen, am 1. Juli hatten wir D-Mark im Portemonnaie und am 3. Oktober lebten wir in einem neuen Land. Was mir in Erinnerung geblieben ist von dieser Zeit: Wie alle vor allem dem 1. Juli entgegenfieberten. Von Presse-, Meinungs- und Reisefreiheit sprach niemand mehr.
Devisen waren die Devise des Glücks. Das «Wir sind das Volk»-Volk jubelte, weil es endlich erstklassiges Geld hatte, und kaufte Fanta statt Himbeerbrause. Ich fuhr in diesem Sommer auf eine Ferienzeit nach Moskau und Umgebung und wunderte mich.
Ein Jahr zuvor war ich schon einmal in der Sowjetunion, mit ein paar aus DDR-Mark teuer umgetauschten Rubeln. Die reichten für die Metro, Moskauer Eis und Kwas. Ich war glücklich. 1990 war ich dann König: 50 D-Mark in der Tasche reichten aus, um von fast allen Kindern und Erwachsenen, mit denen ich zu tun hatte, hofiert zu werden. Dabei hatte ich mich kaum verändert, höchstens etwas mehr Bartflaum im Gesicht.
«Nur ein Stück von dem grossem Kuchen»
Die Freude über das schöne neue Geld hielt freilich nicht lange vor. Denn mit der Einführung der D-Mark in der DDR und der Umstellung von Löhnen und Gehältern von Ost- auf Westmark im Verhältnis eins zu eins verlor die ostdeutsche Industrie mit einem Schlag ihre Wettbewerbsfähigkeit.
Zum Buhmann wurde dann die Treuhandanstalt: Ihre Aufgabe war es, die DDR-Staatsbetriebe schnell zu privatisieren. Damals wie heute wird ihr vorgeworfen, nicht nur marode, sondern auch überlebensfähige Betriebe liquidiert oder billig an westdeutsche Konkurrenten verscherbelt zu haben. Das hatte Folgen: Für Abertausende DDR-Bürger bedeutete die Einheit zunächst einmal den Verlust ihres Arbeitsplatzes.
Aus Hamburg kam in dieser Zeit ein Mann in unser Städtchen, der sich «nur ein Stück von dem grossem Kuchen» abschneiden wollte. Es sei nichts Schlimmes daran, im Osten Geld zu verdienen, sagte er und überredete meinen Vater, Versicherungen zu verkaufen. Ihm blieb nichts anderes übrig.
Planbar war 1990 nichts
Mein Vater hatte in den 1970er-Jahren viele Jahre als Grenzsoldat in der Nationalen Volksarmee gedient. Das musste er tun, um studieren zu können: Volkswirtschaftslehre, was in der DDR «Politische Ökonomie des Sozialismus» hiess. 1989 war er kurz davor, seine Doktorarbeit fertigzustellen. Am Tag der Wiedervereinigung war er seine Stelle an der Universität los und musste sich überlegen, wie er seine Familie ernährte.
Versicherungen verkaufen etwa. Aber dafür war er nicht gemacht. Er hat dann schon bald begonnen, als Altenpfleger zu arbeiten. Zunächst als ungelernte Hilfskraft, aber mein Vater hat sich weitergebildet und Karriere gemacht, wenn auch eine andere als geplant. Aber planbar war 1990 ohnehin nichts. Bei seiner Pensionierung im vorigen Jahr leitete mein Vater dann ein grosses Heim in Niedersachsen und ist immer noch ein gefragter Experte für Qualitätsmanagement in der Pflege.
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hatte 1990 versprochen, es werde in gemeinsamer Anstrengung gelingen, die neuen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen «schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln.»
Der falsche Prophet
Als Prophet war der Mann ungeeignet, auch wenn das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, ein deutscher Thinktank, in einer jüngsten Studie die Wiedervereinigung als eine «Erfolgsgeschichte» bezeichnete. Gerade im letzten Jahrzehnt habe sich vieles weiter zum Positiven entwickelt, etwa beim Rückgang der Arbeitslosigkeit und dem Zuwachs der Beschäftigung. «Blühende Landschaften» seien allerdings nicht zu sehen, nur einige «blühende urbane Inseln.»
In Summe fällt die ökonomische Bilanz zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit ernüchternd aus. Noch immer hat keines der fünf ostdeutschen Flächenländer «das Niveau des westdeutschen Landes mit der niedrigsten Wirtschaftskraft erreicht», heisst es im jüngsten Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit.
«Es gibt immer noch eine Ost-West-Trennung», konstatiert auch der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Reint E. Gropp. Die Löhne sind auf der einen Seite immer noch niedriger als auf der anderen – die Arbeit ist die gleiche. Aber warum soll eine Erzieherin oder ein Lehrer in Bochum grundsätzlich mehr verdienen als in Cottbus? Weil der Osten billiger ist?
Das ist er nicht. Klar, das Mietniveau mag insgesamt geringer sein. Alles andere ist überall in Deutschland gleich teuer: Handytarife unterscheiden nicht nach Ost und West, sondern nach Datenvolumen. Versicherungen, Strom, Klamotten, Butter und Brot – beim Preis werden keine Unterschiede zwischen Ost und West gemacht. Für eine Bahnfahrkarte zahlt man überall in Deutschland gleich viel.
Was die Einheit wirklich bedeutet
Nein, es ist noch nicht alles zusammengewachsen, was zusammengehört. Dass es auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch Unterschiede zwischen Ost und West gibt, halte ich aber für ganz normal, wenngleich einige – siehe Lohnniveau – sehr ungerecht sind. Als Entschuldigung für ein allgemeines Frustgefühl taugen sie dennoch nicht. Denn im Grunde geht es den Deutschen recht gut, hüben wie drüben.
Ich habe jedenfalls nicht das Gefühl, überrollt worden zu sein. Das war vor 30 Jahren anders, damals krachte aber auch ein ganzes Land zusammen. Wanderwitz, der Ostbeauftragte, zieht zum Jahrestag der Wiedervereinigung eine überwiegend positive Bilanz. «Wir haben 30 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit, wir leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand in einem geeinten Europa. Das Glücksgefühl von 1990 müssen wir zurückholen.»
Ich spüre es jeden Tag. Meine beste Freundin kommt aus Bayern, eine andere gute Freundin – gebürtige Hamburgerin – lädt jedes Jahr am 3. Oktober zum Full English Breakfast. Aus Dankbarkeit, weil sie ohne die Wiedervereinigung niemals nach Leipzig hätte kommen können. Zum Frühstück kommen keine Ossis oder Wessis, zum Frühstück kommen Freunde. Aus Schwaben, aus der Börde, aus dem Eichsfeld, aus dem Harz. So geht Einheit.
Ich richte es mir jedes Jahr ein, vorbeizuschauen. Obwohl ich seit vier Jahren am 3. Oktober ein ganz privates Glück feiere. Meine Tochter ist ein Einheitsbaby.