Nachbarn seit vier Jahren vor GerichtWie viel juristischer Aufwand ist ein «Arschloch» wert?
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12.11.2024
Ein Mann nennt seinen Nachbarn ein «Arschloch» – der klagt. Vier Jahre vor Gericht und ein 700 Seiten dickes Dossier sind die Folge. Prozesse wegen Beleidigung beanspruchen immer mehr juristische Ressourcen.
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12.11.2024, 17:01
Jan-Niklas Jäger
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Ein Mann in Binningen fühlte sich von seinem Nachbarn unrechtmässig beschuldigt. Im Verlauf des Streits nannte er diesen «Arschloch».
Der Nachbar klagte – erfolgreich.
Die Anzahl der Strafanträge wegen Beschimpfung ist in den vergangenen 15 Jahren um das Doppelte angestiegen.
Vor allem während der Corona-Pandemie ging die Zahl nach oben.
Gerichte müssen solche Fälle prüfen. Immer mehr juristische Ressourcen konzentrieren sich auf Anzeigen wegen vermeintlicher Beleidigungen.
Wann ist eine Beschimpfung ein einfaches Ärgernis, wann stellt ihre Aussprache strafbares Verhalten dar? Dem gegenwärtigen Trend nach: immer schneller. In den letzten 15 Jahren hat sich die Anzahl der Strafanträge wegen Beschimpfung verdoppelt.
Während manche sich selbst von wüsten Beschimpfungen nicht beirren lassen, ist anderen schon die Betitelung als «Arschloch» eine Anzeige wert. So war es auch im Fall zweier Nachbarn in Binningen, über den die «Basler Zeitung» berichtet.
Weil ein Mann irrtümlich glaubte, dass sein Nachbar den Besucherparkplatz vor dem Block illegal nutzte, stellte er diesen zur Rede. Ein Streit brach aus, in der Hitze des Gefechts nennt der Parkierende seinen späteren Kläger ein «Arschloch».
Zahl der Klagen wegen Beleidigung nimmt zu
Ob die Anzeige übertrieben war oder nicht, ist Ansichtssache. Fakt ist: Es besteht eine gesetzliche Garantie darauf, dass Strafanträge wegen Beschimpfung von der Justiz geklärt werden müssen. Sie können nicht einfach abgewiesen werden.
Diese Regelung brachte in den vergangenen Jahren eine immense Beanspruchung juristischer Ressourcen mit sich. Vor allem in den Jahren 2019 bis 2022 stieg die Anzahl der Anzeigen wegen Beschimpfung. Die psychische Zusatzbelastung während der Corona-Pandemie dürfte daran ihren Anteil gehabt haben.
Thomas Lyssy, Leiter der Fachstelle Vergleichsverhandlungen im Baselbiet, sieht im Gespräch mit der «Basler Zeitung» neben der Pandemie auch soziale Medien als Ursache dafür, dass die Menschen weniger aushalten als früher. 2023 sind schweizweit im Durchschnitt mehr als 30 Anzeigen und Strafanträge wegen Beschimpfung täglich eingegangen.
Häufig steht Aussage gegen Aussage
Zu Strafen führen die wenigsten von ihnen: Zu oft steht Aussage gegen Aussage. Anders verhielt es sich bei dem beschriebenen Fall in Binningen: Eine Nachbarin bestätigte, das A-Wort gehört zu haben. Obwohl die Verteidigung ihr Befangenheit in dem Fall vorwarf, reichte das zur Verurteilung.
Der Beschuldigte legte Beschwerde gegen das Urteil ein. Nun, vier Jahre nach dem Vorfall und nachdem das Dossier, das sich mit dem Fall beschäftigt, auf 700 Seiten angewachsen ist, wurde er erneut verurteilt – zur Mindeststrafe von 240 in drei Tagessätzen zu bezahlenden Franken.
Im Verlauf des Prozesses hatte sein Kläger noch weitere Anzeigen eingereicht – eine gegen den Strafverteidiger. Dazu kam eine Zivilforderung wegen vermeintlicher Traumatisierung durch den nachbarlichen Konflikt. Diese ist vom Gericht abgewiesen worden.