Abgeworbene SpitzenforscherErste Topshots haben der Schweiz den Rücken gekehrt
Von Lia Pescatore
8.2.2022
Die Schweizer Forschung leidet darunter, dass die Verhandlungen mit der EU stillstehen. Bereits verlassen erste Spitzenforschende das Land. Weitere könnten folgen.
Von Lia Pescatore
08.02.2022, 18:52
Lia Pescatore
Sie beschäftigen sich mit Mikroorganismen, Datenbanken von Sicherheitsbehörden oder dem Einfluss von Vulkanausbrüchen auf das Klima. Die 28 Forschenden in der Schweiz, die sich gegen Tausende Mitbewerber durchgesetzt haben und sich einen der rund 400 renommierten ERC Starting Grants des europäischen Forschungsprogramms sichern konnten.
Damit gehören sie zu den besten Nachwuchsforschenden weltweit. Solch ein Grant bringt Prestige und Geld – für die Gewinnerinnen und Gewinner, aber auch für die Schweizer Universitäten, an denen sie forschen. Eigentlich.
Seit das Rahmenabkommen im vergangenen Sommer gescheitert ist, hat sich die Situation jedoch verändert: Die Schweiz hat ihre Assoziierung am Forschungsprogramm verloren.
Heisst: Die Forschenden bekommen den Preis nur, wenn sie an eine Universität in einem voll assoziierten Staat wechseln.
Solche Staaten sehen nun ihre Chance, aufstrebende Forschende abzuwerben. Zwei Länder haben dies bereits geschafft: Einer* der Forschenden hat seine Basis von der Universität in Genf nach Dänemark an die Universität in Aarhus verlegt. Ein anderer* überlegt sich den Umzug von der ETH zu einem wissenschaftlichen Zentrum in Paris, wie blue News weiss.
Grant-Gewinner*innen werden mit Angeboten überhäuft
Eine Umfrage bei den Forschenden hat gezeigt, dass es zudem noch weitere Kandidatinnen und Kandidaten gibt, die sich einen Abgang überlegen, jedoch ihren Entscheid noch nicht öffentlich kommentieren wollen. Die Abwerbungsversuche werden währenddessen offensichtlicher und offensiver. Der Schwedische Forschungsrat zum Beispiel hat in einer Mitteilung angekündigt, Unis finanziell zu belohnen, falls sie einen der Forschenden ins Land holen können.
Auch Grant-Gewinnerin Charlotte Laufkötter, die an der Universität Bern im Bereich Marine Biogeochemie forscht, hat mehrere Angebote aus Schweden, aber auch aus anderen Ländern wie zum Beispiel Spanien erhalten – ohne dass sie danach gefragt habe, schreibt sie auf Anfrage.
Dass sie in der Schweiz bleibe, sei vor allem der finanziellen Förderung zu verdanken. Die Schweiz zahlt den Grant nun selbst. «Hätte diese Möglichkeit nicht bestanden, würde ich sicherlich überlegen, an eine andere europäische Uni zu wechseln», sagt Laufkötter.
Auch der Job der Ehefrau ist ein Argument
Ebenfalls mehrere Angebote erhalten hat Nicolas Boumal, der sich mit dem Einbezug von Symmetrie und Geometrie in die Optimierung von Datenwelten beschäftigt. Er habe aber nie in Betracht gezogen, die Schweiz wegen des Grants zu verlassen. Zwar sei es üblich für Forschende, häufig international umzuziehen, er sei aber erst 2020 aus den USA in die Schweiz umgezogen. «Ich plane und hoffe nun, für längere Zeit an der ETH Lausanne zu arbeiten.»
Mit dem Ablehnen des ERC-Grants nimmt Boumal bewusst Nachteile in Kauf. Das Logo allein sei international anerkannt als ein Zeichen von Exzellenz. Dies sei entscheidend, wenn es darum gehe, die besten Talente weltweit für sein Forschungsprojekt, das er nun an der ETH Lausanne umsetzt, anzuwerben. An der Universität hält ihn das exzellente wissenschaftliche Umfeld, das nicht nur ihm, sondern auch seiner Ehefrau geboten werde.
Ein Argument, das ausländische Unis teilweise in ihren Abwerbeversuchen einbeziehen: Sie bieten zusätzlich Hilfe bei der Jobsuche für den Partner, aber auch der Kinderbetreuung oder zusätzliche Infrastruktur an, wie SRF berichtete. Auch Boumal erwähnt, dass in den Angeboten, die er erhalten hat, auf spezielle Ressourcen verwiesen wurde, um den Umzug zu erleichtern.
Schweiz schafft eigenen «Starting Grant»
Er lobt das schnelle Einspringen der Schweiz, als es um den Ersatz der Forschungsgelder ging. An der Kommunikation des European Research Council sowie der ETH Lausanne sei angesichts der sich stetig ändernden Umstände nichts auszusetzen gewesen.
Es sei jedoch klar, dass viele Forscher in der Schweiz die Teilnahme am internationalen Wettbewerb bevorzugen würden. Auch Laufkötter schätzt sich glücklich: Ihr Antrag sei als einer der letzten überhaupt voll evaluiert und nun auch durch den Bund finanziert worden.
Dieses Jahr könnten sich die Forschenden gar nicht erst für den ERC-Grant bewerben. Dafür springt die Schweiz mit bis zu 1,8 Millionen Franken in die Bresche.
Forschende fordern Assoziierung trotz politischen Stillstands
Die Biogeochemikerin Laufkötter hofft, dass es bald eine Einigung zwischen der Schweiz und der EU geben wird. «Mein Forschungsfeld lebt von interdisziplinären Ansätzen, das Wegdriften von europäischen Forschungsinstitutionen ist ein grosser Verlust.»
Dass politische Hürden die internationale Vernetzung der Forschung nicht einschränken dürfte, findet auch eine Allianz aus Forschungsinstitutionen, darunter auch die ETH. Unter dem Motto «Stick to Science» fordern sie, dass sich die Schweiz und auch Grossbritannien ans EU-Forschungsprogramm Horizon Europe assoziieren können.
Aber auch politisch führt die Schweiz ihre Bemühungen fort. Diese Woche reist Wirtschaftsminister Guy Parmelin nach Berlin, um sich dort für eine Assoziierung am Forschungsprogramm einzusetzen.