Relikt aus den 90ernWieso heizt Gas den Strompreis an?
Von Andreas Fischer
6.9.2022
Drohender Strommangel: «Ich schalte die Geräte immer aus»
Der Bundesrat hat Klartext geredet: Reicht das freiwillige Energiesparen nicht, wird die Schraube angezogen. blue News wollte wissen, ob Passant*innen nun vermehrt Strom sparen. Eine Umfrage aus Zürich.
01.09.2022
Die Schweiz produziert den grössten Teil ihres Stroms aus eigener Wasserkraft, gerade exportiert sie Überschüsse nach Europa. Die Preise für Konsumenten steigen trotzdem drastisch – das sind die Gründe.
Von Andreas Fischer
06.09.2022, 06:45
06.09.2022, 15:01
Von Andreas Fischer
Dass Schweizer Bürger*innen vielerorts im nächsten Jahr für Strom tiefer in die Tasche greifen müssen, dürfte sich bereits herumgesprochen haben. Wie hoch die Tarife 2023 in den einzelnen Kantonen und Gemeinden wirklich sind, publiziert die Eidgenössische Elektrizitätskommission Elcom am Dienstag, 6. September, auf ihrer Strompreis-Übersicht im Internet.
Klar ist schon jetzt: Die Hälfte der Energieversorger in der Schweiz werden den Strompreis für Haushalte 2023 um 30 Prozent oder mehr erhöhen. In einzelnen Regionen steigen die Preise sogar um 50 Prozent.
Ein Grund dafür: Der Strompreis wird, obwohl sie im Schweizer Strommix kaum eine Rolle spielen, von fossilen Energieträgern bestimmt. Kommt hinzu eine Verflechtung mit dem europäischen Strommarkt, die dazu führt, dass die Schweiz zurzeit sogar Strom in die Nachbarländer importiert.
Warum wird derzeit Schweizer Strom ins Ausland verkauft?
Der Bundesrat ruft zum Stromsparen auf und Schweizer Energieunternehmen verkaufen gleichzeitig Strom ins Ausland, wie die «Handelszeitung» berichtet. Wie geht das zusammen?
Die Erklärung ist simpel: Die Stauseen in den Alpen haben nur begrenzte Kapazitäten, können nicht beliebig gefüllt werden. Im Sommer produzieren die Schweizer Kraftwerke daher in der Regel mehr Strom, als verbraucht wird. Der Produktionsüberschuss wird exportiert und in das europäische Netz eingespeist.
«Die Schweiz ist im Sommer traditionell Stromexporteurin», erklärt Mediensprecher Julien Duc vom Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) auf Nachfrage von blue News. Überschüssiger Strom könne nur bedingt über einen längeren Zeitraum gespeichert werden – nämlich in den Speicherseen. Deshalb ergäbe es Sinn, Produktionsüberschüsse ins Ausland zu verkaufen.
Es bestehe laut Julian Duc auch kein Widerspruch darin,« überschüssigen Strom zu verkaufen und sorgsam mit Energie umzugehen. Die Sparmassnahmen sollen dazu beitragen, dass die inländischen Wasserspeicher und europäischen Gasspeicher im Hinblick auf den Winter möglichst voll sind und nicht durch übermässigen Konsum früher als notwendig angezapft werden.»
Die Spar-Appelle des Bundes seien wichtig und sinnvoll: Denn jede Kilowattstunde, die jetzt aus Schweizer Wasserkraftwerken nach Europa geliefert wird, hilft bei den Nachbarn, Gas einzusparen. Deutschland muss zurzeit recht viel Gas verstromen, um Produktionsausfälle in französischen AKW auszugleichen. «Der derzeitige Stromexport hilft also mit Blick auf die kritische Winterversorgung», erläutert Julien Duc.
Wie stark hängt die Schweiz von den Preisen am europäischen Strommarkt ab?
Die Stromversorgung in der Schweiz funktioniert ohne die Nachbarländer nicht. Die Schweiz ist allein physisch stark ins europäische Stromnetz integriert, die Leitungen hierzulande dienen als Transittrassen für Strom, der etwa zwischen Deutschland und Frankreich fliesst. Dazu kommt der Produktionsüberschuss im Sommer und ein Produktionsdefizit im Winter. Heisst: Im Sommer exportiert die Schweiz Strom, im Winter importiert sie ihn. Schweizer Energieversorger müssen also Strom handeln.
Die Jahresbilanz fällt dabei unterschiedlich aus. «In den letzten zehn Jahren hatten wir übers ganze Jahr gesehen siebenmal einen Export- und dreimal einen Import-Überschuss», erklärte Marianne Zünd, Leiterin Medien und Politik beim Bundesamt für Energie, gegenüber blue News.
Auf die Preisgestaltung haben die Schweizer Energieunternehmen, die am europäischen Strommarkt teilnehmen, im Übrigen keinen Einfluss, sagt Julien Duc.«Die Schweiz ist Preisnehmerin und keine Preisgestalterin.»
Wie kommen die teils grossen Unterschiede beim Strompreis zustande?
Der Strompreis ist allgemein heterogen. Er hängt davon ab, woher ein Energieversorger den Strom bezieht und wie der Mix ausfällt.
Unternehmen, die ihren Strom vor allem aus dem Markt beziehen, sind stärker von den volatilen Preisen betroffen als solche, die den Strom selbst produzieren. Stabilere Preise können zudem Unternehmen liefern, die den Strom länger im voraus bezogen haben. Derzeit befinde man sich in einer «ausserordentlichen Situation», so Julien Duc. «Die Schweizer Versorger können die Marktpreise nicht beeinflussen.»
In einer Umfrage der Elcom gab die Mehrheit der Unternehmen an, mehr als 90 Prozent ihres Stroms vom Markt zu beziehen. Gemäss VSE-Sprecher Julien Duc sind 70 Prozent der Schweizer Elektrizitätsversorger «reine Verteilunternehmen, die den Strom über ihre Netze zu den Kunden transportieren, aber keine Kraftwerke betreiben und somit keinen Strom produzieren.»
Die Hauptgründe für die steigenden Strompreise liegen in den rekordhohen Preisen am Grosshandelsmarkt, an dem Strom beschafft wird. Nur etwa ein Drittel der Energie für das Jahr 2023 wurde vor dem grossen Preisanstieg eingekauft, heisst es bei der Elcom.
Die Preise sind laut VSE bereits Ende des vergangenen Jahres stark gestiegen aufgrund von höheren Brennstoff- und CO2-Preisen sowie Kraftwerksausfällen insbesondere in Frankreich. Der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierende Energiekrise mit weniger Gas- und Kohleimporten aus Russland und die aktuelle Trockenheit haben die Preissituation an den Märkten zusätzlich verschärft.
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Wie funktioniert der europäische Strommarkt?
Strom kann im Gegensatz zu Gas nicht in grossem Massstab gespeichert werden. Deswegen müssen Produktion und Verbrauch ausgeglichen sein. Im europäischen Strommarkt gilt das sogenannte Merit-Order-Prinzip: Der Strompreis für alle Marktteilnehmer wird durch das teuerste eingeschaltete Kraftwerk bestimmt, das zur Deckung der Nachfrage benötigt wird.
Ist die Nachfrage niedrig, reicht günstiger Strom etwa aus Windkraft. Derzeit müssen aber teure Gaskraftwerke genutzt werden, um die Nachfrage zu decken – und der Preis richtet sich nach ihnen. Der Strompreis ist also an den Gaspreis gekoppelt. Da der Gaspreis vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine stark gestiegen ist, ist auch Strom viel teurer geworden.
Das bedeutet auch: «Energieunternehmen, die zum Beispiel Erneuerbaren, Kohle- oder Atomstrom produzieren, tun dies zu gleichbleibend geringen Produktionskosten, verdienen aber nach den aktuellen Mechanismen des europäischen Strommarkts irrsinnig viel Geld damit», stellte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck unlängst fest.
Welche Auswirkung hätte eine Reform des «Merit-Order»-Prinzips auf die Strompreise in der Schweiz?
Wenn die EU etwas gegen höhere Strompreise unternimmt, wird das auch Auswirkungen auf die Schweiz haben. Positiv wäre etwa eine Entkopplung der Preise von Strom und Gas. Dadurch würden Konsumenten für günstigen Strom aus Sonne und Wind weniger bezahlen.
Diese Idee findet in Brüssel zunehmend Befürworter. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits eine strukturelle Reform des europäischen Strommarktes sowie Notfallmassnahmen in den kommenden Wochen angekündigt.
Die Umsetzung werde aber kompliziert, erwarten Fachleute wie der Ökonom Georg Zachmann von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. «Den Merit-Order-Preismechanismus kann man nur dauerhaft aussetzen, wenn man den Markt radikal zentralisiert», so Zachmann.
Eine Entkopplung sei nur möglich, wenn der Staat quasi in alle Vertragsbeziehungen eingreifen könne. Solch eine Reform sei langwierig und politisch unrealistisch, auch wegen unterschiedlicher Interessen der Länder und Energiefirmen.
Das sieht VSE-Sprecher Julien Duc ähnlich: «Eine Anpassung des Merit-Order-Prinzips, wie es im Moment diskutiert wird, würde eine Abkehr vom Prinzip Markt, beziehungsweise eine wesentliche Einschränkung des Marktes bedeuten.» Dies sei aber nur möglich, wenn der Staat diesbezüglich die Steuerung übernimmt, da ansonsten die Versorgungssicherheit nicht gewährleistet werden könne.
Warum richten sich die Strompreise überhaupt nach dem teuersten Kraftwerk?
Das Merit-Order-System wurde in den 1990er-Jahren entworfen. Hohe Preise sollten Anreize für den Ausbau von erneuerbaren Energien schaffen: Die waren damals nämlich teuer, aber nicht verlässlich verfügbar. Gas dagegen war billig und floss beständig, konnte also beliebig zur Abdeckung des Bedarfs genutzt werden. Mittlerweile hat sich die Situation umgekehrt.
«Heute geht man davon aus», erklärt Julien Duc, «dass schlussendlich das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage die Versorgungssicherheit sicherstellt. Wenn es eine entsprechende Nachfrage gibt, dann werden sich auch genügend Produzenten am Markt beteiligen.»
Derzeit zeige sich zwar, dass dies in einer Krisensituation kurzfristig nicht oder nur unzureichend funktioniere. «Mittelfristig wird der Markt aber dafür sorgen, dass Angebot und Nachfrage wieder in ein Gleichgewicht kommen und die Preise werden sich wieder normalisieren.»
Mit Material der Nachrichtenagenturen Keystone-SDA, dpa und AFP.