Virologe über Bundesrats-Entscheid «Einfach zuzuwarten ist nicht verantwortungsvoll»

Von Lia Pescatore

24.11.2021 - 18:20

Virologe: «Einfach zuzuwarten ist nicht verantwortungsvoll»

Virologe: «Einfach zuzuwarten ist nicht verantwortungsvoll»

Der Bundesrat stösst mit dem Verzicht auf schärfere Corona-Regeln auf Unverständnis: «Die Zeit drängt», warnt der Virologe Andreas Cerny. «Das ist eine Pandemie, keine kantonale Epidemie», so der Wissenschaftler.

24.11.2021

Der Bundesrat stösst mit dem Verzicht auf schärfere Corona-Regeln auf viel Unverständnis: «Die Zeit drängt», warnt der Virologe Andreas Cerny. Die Kantone fordern eine Diskussion über nationale Massnahmen. Nur die SVP will solche bekämpfen.

Von Lia Pescatore

Unbeeindruckt von täglich kletternden Corona-Fallzahlen hat sich der Bundesrat am Mittwoch gegen eine Verschärfung der nationalen Massnahmen entschieden. Die Situation sei zwar «heikel», erklärte Innenminister Alain Berset in Bern vor den Medien. Aber gerade mit Blick auf die Intensivstationen sei sie eben noch nicht ausser Kontrolle.

Der Ball liege nun bei den Kantonen, die ihren Spielraum nutzen sollten. Begründet hat der Bundesrat diese Überlegung mit den grossen kantonalen Unterschieden beim Infektionsgeschehen. 

Wenig Verständnis für diese Argumentation hat Andreas Cerny, Virologe an der Klinik Moncucco in Lugano. Gerade der Blick auf das europäische Umland zeige: «Die Welle kommt», hält er im Gespräch mit blue News fest (siehe Video oben). Dass der Bundesrat nun die regionalen Unterschiede so stark betone, erscheine aus epidemiologischer Warte wenig sinnvoll. «Das ist eine Pandemie, keine kantonale Epidemie», so der Wissenschaftler. Und die Schweizer Bevölkerung sei mobil. 

Cernys Fazit fällt daher ernüchtert aus: «Einfach zuzuwarten, halte ich für nicht verantwortungsvoll.» Zeit sei in dieser Phase der Pandemie «Mangelware». 

Kantone fordern landesweite Massnahmen

Mit Kritik sparen auch nicht die Kantone, die nun in der Verantwortung stehen. Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektor*innen (GDK) pocht auf eine Diskussion über nationale Massnahmen – und zwar mit Vorlaufzeit. Es gebe zwar tatsächlich kantonale und regionale Unterschiede bei der Inzidenz, heisst es in einer Erklärung. Die epidemiologische Entwicklung sei aber landesweit ungünstig.

Die Erfahrungen aus der bisherigen Pandemie zeigen gemäss der GDK, dass kantonal unterschiedliche Massnahmen auf wenig Akzeptanz stiessen. Die Kantone erhöhen die Schutzmassnahmen bei Bedarf in ihrem Kompetenzbereich, also bei der Maskentragpflicht, Testpflicht unter anderem für Gesundheits- und Pflegepersonal.

Für die Konferenz ist aber fraglich, ob das reicht. Aus ihrer Sicht müssen Bund und Kantone mit Vorlauf über weitere nationale Massnahmen diskutieren. Diese liessen sich dann bei einer Zuspitzung ergreifen. Infrage kämen dabei eine Ausweitung der Maskenpflicht primär in Innenräumen, Homeoffice oder Kapazitätsbeschränkungen.

Im Weiteren hält die GDK fest, die Kantone würden die Kapazitäten der Intensivstationen zur Behandlung der «grossmehrheitlich ungeimpften Covid-Patientinnen und -Patienten» nach Möglichkeit erhöhen. Dabei müsse klar sein, dass weitere Operationen verschoben werden müssen und die Behandlungsqualität sinkt.

Die Zahl der Intensivbetten lasse sich nicht beliebig erhöhen. Ein starker und kurzfristiger Ausbau wie im Frühling 2020 sei aufgrund der Personalsituation nicht mehr möglich.

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Der Personalverband Angestellte Schweiz verlangte angesichts der ausbleibenden nationalen Massnahmenverschärfungen, die Arbeitgeber müssten ihre Pflichten für den Gesundheitsschutz in den Betrieben wahrnehmen und Schutzmassnahmen konsequent umsetzen.

Der Gastgewerbeverband Gastrosuisse begrüsste den Verzicht auf weitere Massnahmen. Eine Verschärfung würde den Gastbetrieben nach der Ausweitung der Zertifikatspflicht noch vollständig den Rest geben. Zudem forderte der Verband weitere Unterstützungsgelder vom Bund.

SVP kündigt Widerstand an

Die SVP vermutet, dass der Bundesrat die Verschärfung der Massnahmen erst nach der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz am 28. November beschliessen wird. Verschärfungen weist die Partei gemäss Communiqué aber entschieden zurück.

Die SVP werde auch nach der Abstimmung eine Zulassung nur für Geimpfte und Genesene zu bestimmten Stätten, ein Impfobligatorium und das Impfen Minderjähriger bekämpfen. Weil die Wirksamkeit der Impfungen nach einigen Monaten «massiv nachlässt», machen für die SVP einzig vermehrte Tests Sinn. Die Tests müssten wieder gratis werden.

Die Covid-Strategie der Partei sei seit Beginn der Pandemie auf den Schutz der Verletzlichen ausgerichtet. Gerade für Menschen über 65 sei der Schutz durch Tests sicherer als durch das Zertifikat.

FDP will bei Booster-Impfung den Turbo zünden

Die FDP fordert einen Booster-Turbo. Wie sie in einem Communiqué mitteilte, sind Bund, Kantone und Swissmedic in der Pflicht, Impfwilligen die dritte Dosis so schnell wie möglich zur Verfügung zu stellen.

Die Zertifikatsregel mit den 3G – geimpft, genesen, getestet – müsse beibehalten werden. Die 2G-Regel – geimpft oder genesen – lehnt die Partei ab. Tests sollen die Betroffenen weiterhin selber bezahlen. Zudem stellt sich die Partei gegen eine vom Bund verordnete Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen. Das könnten Institutionen und Unternehmen in eigener Kompetenz anordnen.

Grünen-Präsident Balthasar Glättli schrieb auf Twitter, der Bundesrat schiebe die Verantwortung an die Kantone ab. Mit einem Seitenhieb auf die Kantone merkt er an, diese hätten bei der Verbesserung der Lage laut den Föderalismus eingefordert. Jetzt könnten sie zeigen, ob dieser Föderalismus auch krisentauglich sei. Bisher sei der Eindruck aber gegenteilig.

Reaktionen mit Material der Nachrichtenagentur Keystone-SDA ergänzt.

Von Lia Pescatore