Ein Jahr nach ChristchurchSo geht die Schweiz mit Rechtsextremismus um
Von Jennifer Furer
15.3.2020
51 Menschen starben vor einem Jahr beim Anschlag eines Rechtsterroristen auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch. Das Ereignis erschüttert, wühlt auf und fordert zum Handeln auf – auch der Bund hat reagiert.
Der Anschlag im neuseeländischen Christchurch am 15. März 2019 hat den Menschen ein weiteres Mal deutlich vor Augen geführt: Die Gefahr eines Terroranschlags geht nicht nur von radikalisierten Islamisten aus.
Auch links- und rechtsextremer Terrorismus existiert – in einer unberechenbaren, unvermittelten und brutalen Form. 51 Menschen erschoss ein Rechtsterrorist in zwei Moscheen. Die Tat streamte der Schütze live in den sozialen Medien.
Fabian Eberhard, preisgekrönter Journalist beim «Sonntagsblick» und Rechtsextremismus-Experte, sagt, der Anschlag von Christchurch sei von seiner Grösse und seiner Signalwirkung her ein Fanal gewesen. «Da steckt ein neuer Tätertyp dahinter. Einer, der sich zu Hause vor dem PC radikalisiert, alleine handelt, und doch in eine internationale, rechtsextreme Szene eingebunden ist, die sich über Foren und Chats austauscht.»
In diesen Foren wird der Anschlag gefeiert – bis heute. Zudem: «Anschläge, die medial als Live-Events inszeniert werden, triggern Nachahmungstäter», so Eberhard.
Dass der Anschlag andere zu Terrorattacken anregt, ist nach den tödlichen Anschlägen in Hanau und Halle durch rechtsextreme Einzeltäter zu erkennen. In Hanau, wo zehn Menschen getötet wurden, und in Halle mit neun Opfern ähnelten die Vorgehensweisen jener von Christchurch.
Auch das Internet als Quelle und Verbreitungsmöglichkeit ihrer rechtsextremen Ideologie verbindet die Täter.
Christchurch sei wohl nicht nur für die rechtsextreme Szene ein Erweckungserlebnis gewesen, sondern auch für die westliche Gesellschaft und Politik, sagt Eberhard. «Durch den Anschlag wurde klar: Die Gefahr kommt heute genauso vom rechten Rand und nicht mehr nur von Islamisten.»
Der Anschlag dürfte allein aufgrund seines Ausmasses auch der Bevölkerung in Erinnerung gerufen haben, dass Rechtsterrorismus genauso tödlich sein könne wie der Islamismus.
Der Fokus der Geheimdienste müsse neu ausgerichtet werden, so Eberhard. Das passiert nun auch in der Schweiz: Bundesrätin Viola Amherd (CVP) will das Nachrichtendienstgesetz revidieren, damit in Zukunft auch Rechtsextremisten elektronisch überwacht werden können.
Betreiber von Social-Media gefordert
Gemäss Eberhard sollte die Politik klar Stellung gegen rechtsextreme Tendenzen beziehen. «Es muss dafür gesorgt werden, dass die Sicherheitsbehörden auch auf dem rechten Auge wachsam sind.»
Eberhard sieht aber nicht nur die Politik gefordert, sondern auch die Betreiber von Online-Foren und Social-Media-Plattformen. Im letzten Jahr seien Dutzende rechtsextreme Anschläge zusammengekommen, mehrere davon wurden live im Internet übertragen. Viele der Täter hatten sich – wie jener von Christchurch – in Online-Foren radikalisiert
«Social-Media-Betreiber sollten bei gewalttätig extremistischen Inhalten härter durchgreifen und die Verbreitung von Fake-News eindämmen», fordert Eberhard. 16 grosse Internetkonzerne und 17 Staaten hätten sich bereits dem sogenannten Christchurch-Aufruf angeschlossen. «Sie verpflichteten sich, Massnahmen zu ergreifen, um etwa das Hochladen von terroristischen und gewalttätigen extremistischen Inhalten zu verhindern», so Eberhard.
Viele Menschen in Neuseeland gedenken am Freitag der Anschlagsopfer auf zwei Moscheen von Christchurch.
Bild: KEYSTONE/AP/VINCENT THIAN
In Neuseeland haben am Freitag zahlreiche Menschen der Anschlagsopfer von Christchurch gedacht.
Bild: KEYSTONE/EPA AAP/KELLY BARNES
Trauer in der neuseeländischen Stadt Christchurch nach dem Anschlag auf zwei Moscheen.
Bild: KEYSTONE/AP/MARK BAKER
Doch am wichtigsten sei die Zivilgesellschaft: «Dem Rechtsextremismus muss im Alltag Einhalt geboten werden», sagt Eberhard.
Leider, so Eberhard, müsse weiterhin jederzeit mit rechtsextremen Anschlägen gerechnet werden. «Wahrscheinlich sogar vermehrt. Und auch mit grossen – wie in Christchurch.» Im Vergleich etwa mit Deutschland oder den USA ist die rechtsextreme Szene in der Schweiz deutlich kleiner, weniger aktiv und weniger gewalttätig. Trotzdem kann es laut Eberhard auch hierzulande jederzeit zu einem rechtsextremen Anschlag kommen.
Auch in der Schweiz gebe es radikalisierte Personen und Gruppierungen, die Waffen besässen. «Vergangene Anschläge haben gezeigt, dass es dazu nicht allzu viel braucht: Eine Person, die sich über das Internet radikalisiert, eine Waffe besitzt und zur Tat schreitet.» Viele potenzielle Täter hätten die Sicherheitsbehörden nicht auf dem Radar. «Ein Anschlag ist daher auch bei uns jederzeit möglich», so Eberhard.
Bund: Gefahr von Alleinhandelnden
Lea Rappo, stellvertretende Kommunikationschefin des Nachrichtendienstes (NDB), bestätigt, dass in der rechtsextremen Szene grössere Mengen funktionstüchtiger Waffen vorhanden sind, auch werden Kampfsportarten trainiert. «Das grösste Risiko für einen rechtsextrem motivierten Anschlag geht in der Schweiz – analog zu diversen Anschlägen 2019 weltweit – von allein handelnden Personen mit rechtsextremer Gesinnung, aber ohne Kontakt zu etablierten gewalttätig-extremistischen Gruppierungen aus», so Rappo.
Die Anschläge von Christchurch, Halle oder Hanau seien zudem beispielhaft für extremistische Täter, die mit ihrer massiven Gewaltanwendung letztlich terroristische Gewalttaten verüben. Bisher gäbe es nur schwache Hinweise auf eine solche Entwicklung in der Schweiz. «Die rechtsextreme Szene verhält sich hier weiter konspirativ und übt beim Einsatz von Gewalt Zurückhaltung», sagt Rappo.
Zunahme von gewalttätigem Rechtsextremismus
Dennoch: Die Anzahl an gewalttätigen rechtsextremistisch motivierten Ereignissen hat in der Schweiz zugenommen. Laut Rappo sind dem NDB für 2018 53 Ereignisse im Bereich des gewalttätigen Rechtsextremismus bekannt. Dies bedeutet mehr als eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr.
Beim linksextremen Terror fällt die Zunahme geringer aus, doch sind dort die Fallzahlen deutlich höher: Der NDB hat 2018 226 Ereignisse im Bereich des gewalttätigen Linksextremismus registriert. Das ist eine Steigerung von 13 Prozent gegenüber 2017.
Die Zunahme des gewalttätigen Rechtsextremismus besorgt auch den Nachrichtendienst. Derzeit ist es nicht möglich, Links- oder Rechtsextremisten nach Genehmigung durch das Bundesverwaltungsgericht zu überwachen, wie es etwa bei islamistischen Gefährdern möglich ist.
Nachrichtendienst will mehr Mittel
NDB-Direktor Jean-Philippe Gaudin sagte zur Westschweizer Zeitung «Le Temps» kürzlich: «Alles, was ich möchte, ist, dass man Gewaltextremismus wie Terrorismus oder Spionage bearbeiten kann.»
Als Gaudin seinen Posten übernommen habe, sei Gewaltextremismus keine Priorität gewesen. «Heute ist er eine ebenso wichtige Bedrohung. Aber das Gesetz gibt mir aktuell nicht die Möglichkeit, genehmigungspflichtige Beschaffungsmassnahmen in Bezug auf Gewaltextremismus anzuwenden.»
Derzeit ist die Revision des Nachrichtendienstgesetzes im Gange. Der Bundesrat erteilte den Auftrag an das Das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) Anfang 2019.
Seither laufen im VBS und namentlich im Nachrichtendienst des Bundes die entsprechenden Arbeiten. Bei den Punkten, die im Rahmen der Revision geprüft werden, handelt es sich unter anderem um Anträge des Parlaments, die nach Inkrafttreten des Gesetzes verabschiedet wurden.
Bis das Nachrichtendienstgesetz nicht auf Links- und Rechtsextremisten ausgeweitet werde, seien dem NDB klare Schranken im Handlungsspielraum gesetzt, so NDB-Sprecherin Rappo. «Damit der NDB diesbezüglich präventiv tätig werden kann, reicht ein ideologischer oder politischer Hintergrund von Personen, Organisationen oder anstehenden Ereignissen nicht aus.» Ausschlaggebend hierfür seien momentan effektive Gewaltbezüge, sprich das Verüben, Fördern oder Befürworten von Gewalt.
Das neue Nachrichtendienstgesetz, das erst seit 1. Juli 2017 in Kraft ist, ermöglicht dem NDB bereits jetzt neue Mittel einzusetzen, die sogenannten genehmigungspflichtigen Beschaffungsmassnahmen.
Dazu gehört unter anderem die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, der Einsatz von Ortungs- und Überwachungsgeräten, das Eindringen in Computersysteme und Computernetzwerke oder das Durchsuchen von Räumlichkeiten.
Diese genehmigungspflichtigen Beschaffungsmassnahmen können aber nur angeordnet werden, wenn eine konkrete Bedrohung für die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz vorliegt.
Extremismus ist nicht gleich Terrorismus
Aus Gründen der Verhältnismässigkeit schliesse das Nachrichtendienstgesetz den Gewaltextremismus von den genehmigungspflichtigen Beschaffungsmassnahmen aus, so Rappo. «Für die Bearbeitung des Gewaltextremismus hat sich für den Nachrichtendienst des Bundes demnach mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz nichts geändert.»
Der Nachrichtendienst kann nur bei Terrorismus-Verdacht seit September 2017 auf genehmigungspflichtige Massnahmen zurückgreifen. Zwar gibt es keine offizielle Definition von Terrorismus, doch: Ab wann eine Gruppierung als terroristisch eingestuft werde und dementsprechend genehmigungspflichtig überwacht werden könne, gibt das Schweizer Gesetz vor. Darin eingeschlossen sind derzeit gewalttätig-extremistische Aktivitäten, wie sie von Links- und Rechtsradikalen in der Schweiz ausgehen, nicht.
Nachrichtendienst kämpft gegen immer zahlreichere Bedrohungen an
Die Schweiz ist deutlich weniger sicher als noch vor wenigen Jahren. Das schreibt der Nachrichtendienst in seinem neusten Lagebericht. Ausländische Staaten betreiben demnach vermehrt Spionage und Propaganda aus der Schweiz. Die Terrorgefahr habe sich akzentuiert.
22.10.2024
Bundesanwalt fordert «zeitgemässe Instrumente» zur Strafverfolgung
Die Bundesanwaltschaft hat im vergangenen Jahr mehr Strafverfahren als noch im Vorjahr eröffnet und zahlreiche Verfahren erledigt. Bundesanwalt Stefan Blättler plädiert dafür, dass die Strafverfolgungsbehörden «zeitgemässe rechtliche Instrumente» erhalten.
11.04.2024
Trauer nach Anschlag bei Moskau: Retter suchen weiter nach Verschütteten, Papst verurteilt Angriff
STORY: Nach dem Anschlag auf ein Veranstaltungszentrum am Rande von Moskau hat Papst Franziskus den Angriff verurteilt. Während der Messe zum Palmsonntag auf dem Petersplatz sagte das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche: «Ich versichere meine Gebete für die Opfer des abscheulichen Terroranschlags in Moskau, möge der Herr sie in seinem Frieden empfangen, ihre Familien trösten und die Herzen derer bekehren, die diese unmenschlichen Taten begehen, die Gott beleidigen», so der Pontifex. Unterdessen hat die Eigentümerfirma des am Freitag bei Moskau in Flammen aufgegangenen Konzertsaals mitgeteilt, das Gebäude solle wieder aufgebaut werden. Am Sonntag bahnten sich Retter weiter ihren Weg durch die Trümmer. Zwei Tage zuvor hatten bewaffnete Personen einen tödlichen Anschlag auf den Veranstaltungsort verübt, bei dem nach russischen Angaben mehr als 130 Menschen getötet worden sind. Bei dem Anschlag schossen Bewaffnete in Tarnkleidung nach Angaben von Behörden wild um sich, anschliessend brach ein Feuer aus, woraufhin das Dach einstürzte. Hunderte Feuerwehrleute versuchten über Stunden hinweg, die Flammen einzudämmen. Innerhalb von 24 Stunden sind nach Angaben des Gouverneurs des Grossraums Moskau vom Sonntag 133 Leichen aus den Trümmern gezogen worden. Die Ärzte kämpften zudem «um das Leben von 107 Menschen», so Andrej Worobjow. Mehr als 150 seien verletzt worden. Zu dem Anschlag hat sich die Extremisten-Miliz Islamischer Staat (IS) bekannt. Vor dem Konzertsaal haben in der Zwischenzeit Trauernde Blumen niedergelegt In Russland wehten zum Gedenken an die Anschlagsopfer die Fahnen auf Halbmast. Präsident Wladimir Putin hatte für diesen Sonntag einen nationalen Trauertag ausgerufen. Michail Kirjew / Trauernder «Am Freitagabend passierte uns eine schreckliche Tragödie. Damit hat natürlich niemand gerechnet. Aber wissen Sie, was ich sagen möchte? Es gibt keine Panik unter den Menschen, absolut keine Panik. Es gibt nur gerechten Zorn. Ich möchte sagen, dass wir auf jeden Fall stärker werden. Wir sind bereits stärker geworden, wir werden gewinnen.» Renat / Trauernder «Es ist schade, Menschen sterben. So eine schreckliche Schande.» Am Samstag hatte Wladimir Putin in einer Ansprache an die Nation behauptet, die elf Festgenommenen Verdächtigen hätten versucht, in Richtung Ukraine zu entkommen. Die USA gaben an, Moskau vor einem Anschlag gewarnt zu haben. Etwas mehr als einen Tag nach den Vorkommnissen bei Moskau flog das russische Militär erneut intensive Angriffe auf Ziele in der Ukraine.
24.03.2024
Nachrichtendienst kämpft gegen immer zahlreichere Bedrohungen an
Bundesanwalt fordert «zeitgemässe Instrumente» zur Strafverfolgung
Trauer nach Anschlag bei Moskau: Retter suchen weiter nach Verschütteten, Papst verurteilt Angriff