Drei Opfer berichtenSexuelle Angriffe auf Frauen am Jakobsweg häufen sich
Lea Oetiker
11.11.2024
Der Jakobsweg zieht jedes Jahr Hunderttausende Menschen an. Auch mehr und mehr Frauen begeben sich auf den Pilgerweg – nun berichten manche von sexuellen Belästigungen und Angriffen auf ihrer Reise.
Lea Oetiker
11.11.2024, 21:49
Lea Oetiker
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Der Jakobsweg zieht jedes Jahr tausende Menschen an. Letztes Jahr waren es 446'000 Personen, die Hälfte davon Frauen.
Doch immer mehr Frauen berichten von sexuellen Belästigungen und Angriffen auf ihrer Pilgerreise.
Genaue Zahlen oder Statistiken gibt es aber nicht.
Im Frühjahr 2015 erschütterte ein Mordfall die Pilgergemeinschaft. Die Amerikanerin Denise Pikka Thiem verschwand plötzlich auf ihrer Pilgerreise auf dem Jakobsweg in der Region León im Norden Spaniens. Fünf Monate später fand man ihren Leichnam. Sie wurde von einem ortsansässigen Mann getötet.
Immer wieder berichten Frauen über Angriffe und sexuelle Belästigungen auf dem Camino de Santiago. In einer Facebook-Gruppe tauschen sich Opfer von Angriffen auf dem Jakobsweg aus.
Lorena Gaubor, die Gründerin der Facebook-Gruppe, sagt, dass die Berichte schockierend seien, aber nicht überraschend. «Sexuelle Belästigung ist auf dem Camino weit verbreitet. Es kommt sehr häufig vor. Jedes verdammte Jahr bekommen wir Berichte von Frauen, denen das Gleiche passiert», sagte sie.
Der «Guardian» hat mit neun Frauen gesprochen, die von ihren Erlebnissen auf dem Jakobsweg berichteten.
«Ich fühlte mich in diesem Moment sehr, sehr unsicher»
Sara Dhooma erzählt, wie sie 2019 an bunten Häusern aus Stein vorbeilief, als sie merkte, dass ein Mann sie verfolgte. Daraufhin verschwand sie in einem Café. Als sie wieder herauskam, wartete derselbe Mann an einem anderen Abschnitt auf sie. Als er sie sah, öffnete er den Reissverschluss seiner Hose und «griff sich an die Genitalien», wie Dhooma erzählt.
Der Mann lief auf sie zu. «Ich fühlte mich in diesem Moment sehr, sehr unsicher», erzählt sie. Dhooma floh, doch der Mann verfolgte sie weiter. Sie entdeckte ein Haus, schob sich durch die Tür und schrie um Hilfe. Der Mann folgte ihr weiter. «Ich wusste nicht, ob er eine Waffe hatte, ich wusste nicht, was er vorhatte», sagt sie. «Ich dachte, ich würde sterben, ich dachte, er würde mir wehtun.»
Das Haus gehörte zufälligerweise einem Polizisten, der gerade ausser Dienst war. Er half ihr. Später stellte sich heraus, dass der Mann ein Messer und Munition dabei hatte und bereits wegen Vergewaltigung verurteilt worden war. «Wenn ich das Haus nicht gefunden hätte, weiss ich nicht, was passiert wäre», sagt Dhooma.
Die örtliche Polizei reagierte nicht
Mit ihrem Erlebnis ist Dhooma nicht allein. Auch die 25-jährige Rosie berichtet, dass sie Anfang dieses Sommers durch einen bewaldeten Weg in Portugal wanderte, als sie einem Mann begegnete, der keine Hose trug und masturbierte, während er sie beobachtete. Die örtliche Polizei reagierte nicht auf ihren Anruf.
Auch die Journalistin und Autorin Marie Albert macht auf die Gefahren aufmerksam. Sie dokumentierte eine Reihe von Übergriffen, als sie 2019 rund 700 Kilometer durch Nordspanien gewandert war. So versuchte ein Mann, sie zu küssen, ein anderer masturbierte vor ihr, sagte sie. Ein Mann belästigte sie per SMS, ein anderer folgte ihr auf der Strasse. Manchmal seien ihre Angreifer Pilger gewesen, die denselben Weg wie sie gingen. «Diese Routen gelten als sicher für Frauen, und es gibt ein Tabu, etwas anderes zu sagen», sagt sie dem «Guardian».
446'000 Menschen beschritten letztes Jahr den Jakobsweg, die Hälfte davon waren Frauen
Der Jakobsweg zieht Pilgerinnen und Pilger aus aller Welt an. 446'000 Menschen beschritten ihn das letzte Jahr. Über die Hälfte davon sollen Frauen gewesen sein, wie der «Guardian» berichtet. Und je mehr Pilgerinnen es wurden, desto höher wurde die Anzahl der Übergriffe.
Meist seien es Männer, die sich vor den allein laufenden Frauen entblössten. Aber auch Fälle von Entführungen und Vergewaltigungen sind aktenkundig.
Genaue Zahlen liegen aber nicht vor. Die Behörden in Frankreich, Spanien und Portugal führen keine spezifische Statistik zu Fällen auf dem Jakobsweg.
Von den neuen Frauen, die mit dem «Guardian» gesprochen haben, meldeten sechs die Vorfälle bei der Polizei. In nur einem Fall konnte der Täter ausfindig gemacht und strafrechtlich verfolgt werden.