Staatsanwältin plädiert «Junge Männer wurden körperlich ertüchtigt»

Von Jennifer Furer, Bellinzona

11.8.2020

Der Prozess gegen die zwei Schweizer mutmasslichen IS-Mittelsmänner ist auf drei Tage angesetzt.
Der Prozess gegen die zwei Schweizer mutmasslichen IS-Mittelsmänner ist auf drei Tage angesetzt.
Keystone

Tag zwei im Islamisten-Prozess: Die Staatsanwältin hielt heute am Bundesstrafgericht ihr Plädoyer – und gab die Strafe bekannt, die sie für einen der Schweizer mutmasslichen IS-Anhänger fordert.

Gebannt horchten das Gericht, die Zuschauer und die Medienschaffenden den Worten von Staatsanwältin Juliette Noto. Erstmals verkündete sie das Strafmass, das sie für den Hauptbeschuldigten im Schweizer Islamisten-Prozess forderte.

Der Beschuldigte soll mit einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten bestraft werden. Zudem soll er die gesamten Verfahrenskosten bezahlen. 

In ihrem Plädoyer führte die Staatsanwältin aus, dass der 34-jährige Familienvater als «Leitwolf» agiert habe. «Er hat junge Männer in die Ideologie des IS eingeführt und sie im Sinne des Islamischen Staates (IS) indoktriniert.»

Der Beschuldigte selbst sei «vor Jahren» zum Islam konvertiert. «Er verstand es als seine religiöse Pflicht, die Reinheit des Islams zu beschützen und dem IS seine Treue zu schwören.» Er verfolgte ein «zutiefst menschenverachtendes Gedankengut», so die Staatsanwältin.

Wegen schwarzen Stirnband enttarnt?

Mitte November bis Dezember 2013 sei der Beschuldigte nach Syrien gereist. Das sei nicht strittig, so Noto. «Er ist diesbezüglich geständig.» Jedoch sagte er bei seiner Befragung am Montag vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona, er habe dort lediglich Hilfsgüter verteilt und aus Langeweile Wachdienste gemacht.

Die Staatsanwältin Noto sieht das aber anders. Es gebe klare Beweise, welche die Version des Beschuldigten widerlegen – etwa Fotos, in denen er schwer bewaffnet in Gebieten des IS beziehungsweise deren Vorgänger- oder Teilorganisationen zu sehen sei.

Laut Noto gehörte der Beschuldigte der Kampfeinheit Jamwa an. Dies belege ein Bild, auf dem er ein entsprechendes schwarzes Stirnband getragen habe.

Der Hauptbeschuldigte vor Gericht. Der Prozess gegen ihn und einen weiteren Beschuldigten findet vom 10. bis 12. August am Bundesstrafgericht in Bellinzona statt.
Der Hauptbeschuldigte vor Gericht. Der Prozess gegen ihn und einen weiteren Beschuldigten findet vom 10. bis 12. August am Bundesstrafgericht in Bellinzona statt.
Keystone

Für die Staatsanwältin ist zudem erstellt, dass er bewaffnete Wachdienste und Kampfeinsätze geleistet habe. Dies würde der Nachrichtenaustausch zwischen dem heute 34-Jährigen und engen Kontaktpersonen zeigen.

So schrieb seine Frau im November einer Freundin: «Er ist gar nicht Hilfsorganisation.» Oder: «Morgen fangen sie mit dem Training an.»

Nach seiner Rückkehr in die Schweiz habe der Familienvater Pläne für eine Rückkehr nach Syrien gemacht, so Noto. Er habe sich bei zwei IS-Kämpfern vor Ort nach dem Leben dort erkundigt.

«Der Angeklagte war nicht als Zivilist oder als Gutmensch in Syrien», sagte die Staatsanwältin. Das seien Schutzbehauptungen.

Tödlicher Würgegriff

Der Beschuldigte versuchte laut Noto auch andere Muslime für eine Syrien-Reise zum IS zu rekrutieren. Dafür habe er zwei Projekte genutzt: die Koranverteilaktion Lies!, über die er in der Schweiz die Verantwortung innehatte, und eine Winterthurer Kampfsportschule, die er gegründet haben soll.

«Beide Projekte dienten als zentrale Vehikel des Beschuldigten junge Muslime für den IS und dessen gewalttätigen Dschihad anzuwerben.» Er habe so die Expansion des radikalen politischen Islams vorantreiben wollen.

In der Kampfsportschule seien junge Männer für den bewaffneten Kampf in Syrien und dem Irak vorbereitet worden, ist sich die Staatsanwältin sicher. «Junge Männer wurden körperlich ertüchtigt», so Noto. Es seien etwa Würgetechniken geleert worden, die dazu dienen, dem Gegenüber die Blutzufuhr abzuschneiden.

International religiöse Autoritäten

Laut Staatsanwältin Noto sei der Beschuldigte in ein internationales salafistisches Netzwerk eingebunden gewesen. Er habe intensiven Kontakt zu Salafisten gepflegt – und sie als religiöse Autoritäten angesehen.

So etwa einen Mann aus Bosnien und Herzegowina. Dieser forderte in seinen öffentlichen Predigten dazu auf, dem IS Treue zu schwören. Er sagte unter anderem: «Auf dem Weg Gottes getötet zu werden, ist der einzig wahre Beweis für einen echten Gläubigen.» 

Der Mann wurde 2015 wegen terroristischen Verbrechen zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

«Schreckliches Video»

Der Beschuldigte sei laut der Staatsanwältin selbst zu einer religiösen Autorität angewachsen. Diese Stellung habe er ausgenutzt, um junge Männer und Frauen für den IS anzuwerben, indem er sie gezielt in seine Projekte eingebunden habe, so Noto. 

Zudem hat er laut ihr propagandistisches Material besessen und verbreitet. Zu einem Video sagte Noto: «Ich verzichte an dieser Stelle, in Absprache mit dem Gericht, das Video zu zeigen. Es ist eines der schrecklichsten Videos, das ich je sichten musste.» Es sei an Abscheulichkeit kaum zu überbieten. Ein normaler Mensch hätte das Video nach dem Erhalt gelöscht.

Zum Schluss sagte Staatsanwältin Noto: «In angesichts von Corona neigen wir dazu, die Gräueltaten des IS zu vergessen. Fakt ist: Der Beschuldigte war zum Höhepunkt der Terrororganisation die Hauptfigur des IS in der Schweiz gewesen.»

Anträge für den zweiten Beschuldigten folgen

Für den zweiten Beschuldigten forderte die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten. Ihm wirft die Bundesanwaltschaft zusätzlich zur Beteiligung an einer kriminellen Organisation und dem Besitz von Gewaltdarstellung vor, Sex mit einer 15-Jährigen – die später mit ihrem Bruder nach Syrien zum IS reiste – gehabt zu haben. 

Dem zweiten Beschuldigten im IS-Prozess werden die Beteiligung an einer kriminellen Organisation, Gewaltdarstellungen, Pornografie und sexuelle Handlungen mit einem Kind vorgeworfen.
Dem zweiten Beschuldigten im IS-Prozess werden die Beteiligung an einer kriminellen Organisation, Gewaltdarstellungen, Pornografie und sexuelle Handlungen mit einem Kind vorgeworfen.

Der Beschuldigte bestritt diesen Vorwurf am Montag vor Gericht – und dass er die 15-Jährige emotional an sich gebunden habe, um ihren Entschluss, nach Syrien zu reisen, gefördert und gefestigt zu haben, wie es die Staatsanwaltschaft sagt. Vor ihrer Abreise soll der Beschuldigte die 15-Jährige nach islamischem Recht geheiratet haben. Sie soll schwanger geworden sein.

«Kinderschänder» und «Heuchler»

Laut Staatsanwältin Noto lassen Unterhaltungen und Telefonverbindungen als Indizien den logischen Schluss zu, dass die sexuellen Handlungen und die Schwangerschaft tatsächlich stattgefunden haben. So habe die weltliche Ehefrau des Beschuldigten von seiner angeblichen Affäre gewusst.

Sie schrieb ihm: «Jede weiss, dass si (...) poppt hesch, und sie nid het chöne laufe.» Sie bezeichnet ihn als «Kinderschänder», «Heuchler» und «Lügner».  An eine Freundin schrieb sie: «Das Mädchen ist von ihm schwanger geworden.»

«Gewaltverherrlichende» Darstellungen

Wie dem ersten Beschuldigten wirft die Staatsanwaltschaft dem 36-Jährigen den Besitz von Gewaltdarstellungen vor – auf diesem seien Erschiessungen und Erhängungen zu sehen gewesen. Der 36-Jährige habe zudem Aufnahmen von misshandelten Frauen oder pornografische Videos mit Tieren besessen. 

«An Abscheulichkeit und Gewaltverherrlichung sind die Darstellungen kaum zu überbieten», sagte Staatsanwältin Noto. Sie seien nur schwer zu ertragen.

Am Nachmittag folgen die Plädoyers der Verteidiger. Bereits jetzt ist klar: Der Verteidiger des Hauptbeschuldigten verlangt einen vollumfänglichen Freispruch sowie eine Genugtuung aus der Staatskasse.

Was bisher geschah

Am Montag wurden die beiden Beschuldigten vom Gericht vernommen. Dem ersten Beschuldigten wird vorgeworfen, in Syrien für den Islamischen Staat (IS) beziehungsweise dessen Vor- oder Teilorganisationen gekämpft und Menschen aus dem Umfeld der umstrittenen Winterthurer An'Nur-Moschee für den Dschihad in Syrien rekrutiert zu haben.

Laut der Anklage hat der Islamische Staat zum Zeitpunkt des Aufenthalts des Beschuldigten in Syrien «unzählige terroristische Aktivitäten» begangen – etwa gegen Zivilisten gerichtete Selbstmordattentate, den Einsatz von Chemiewaffen, sexuelle Gewalt gegen die Bevölkerung oder Exekutionen.

Dem 34-jährigen Beschuldigten wird zudem zur Last gelegt, einschlägiges Propagandamaterial hergestellt sowie Gewaltdarstellungen besessen zu haben.

Der Beschuldigte bestritt die Vorwürfe.

Zweiter Beschuldigter

Vor dem Bundesstrafgericht muss sich ein zweiter Beschuldigter verantworten. Auch er wurde am Montag vom Gericht befragt. Dem 36-Jährigen wirft die Bundesanwaltschaft vor, sich an einer kriminellen Organisation beteiligt zu haben, im Besitz von Gewaltdarstellungen gewesen zu sein, Pornografie besessen sowie sexuelle Handlungen mit Kindern vollzogen zu haben.

Laut der Bundesanwaltschaft wollte sich der Mann ebenfalls dem IS in Syrien anschliessen. Allerdings sei er in Mazedonien an seiner Reise nach Syrien gehindert worden.

Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass er mit einer damals noch 15-Jährigen intim geworden sei. Die 15-Jährige soll sich zusammen mit ihrem Bruder radikalisiert haben und nach Syrien gereist sein.

Der Beschuldigte bestritt die Vorwürfe. Auch die damals 15-Jährige bestritt vor Gericht, mit dem Mann intim oder gar schwanger geworden zu sein. Sie wurde wie ihr Vater und ihre Schwester als Zeugin vernommen.

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