Für IS gekämpft? «Leitfigur der Salafisten» muss vor Gericht – das steht in der Anklage

Von Jennifer Furer

29.7.2020

Der Islamisten-Prozess findet vom 10. bis 12. August am Bundesstrafgericht in Bellinzona statt.
Der Islamisten-Prozess findet vom 10. bis 12. August am Bundesstrafgericht in Bellinzona statt.
Keystone

Einem mutmasslichen Schweizer Islamisten wird in knapp zwei Wochen vor dem Bundesstrafgericht der Prozess gemacht. Der heute 34-Jährige soll nach Syrien gereist sein, um dort für die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) zu kämpfen. 

Landesweit sorgte die Winterthurer An’Nur-Moschee für Aufsehen. Nicht zuletzt deshalb, weil aus deren Umfeld laut dem «Tages-Anzeiger» neun Männer und drei Jugendliche nach Syrien gereist sind, um sich mutmasslich dem dortigen Terrorregime anzuschliessen.

Inzwischen sind laut der Zeitung vier der Jihad-Reisenden tot, ein weiterer sitzt im Gefängnis. Andere befinden sich wieder in der Schweiz – auf freiem Fuss. Einer davon ist ein heute 34-jähriger Familienvater. Die Bundesanwaltschaft betitelt ihn als «salafistische Leitfigur in der Schweiz».

Vom 10. August bis 12. August wird ihm vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona der Prozess gemacht. Die Anklage wirft ihm vor, sich an einer kriminellen Organisation beteiligt, einschlägiges Propagandamaterial hergestellt sowie Gewaltdarstellungen besessen zu haben.

Letztere umfasst unter anderem das Video einer Hinrichtungsszene der Gruppierung «Islamischer Staat» (IS), das der Beschuldigte besessen haben soll.

Bewaffnete Wachdienste und Kampfeinsätze

Die Bundesanwaltschaft schreibt in der Anklageschrift, die «Bluewin» vorliegt, dass der 34-jährige Beschuldigte die Ideologie des IS befürwortete, sich mit ihr identifizierte und sich von den Werten der westlichen Welt losgesagt hatte.

Laut der Anklageschrift soll der 34-Jährige Mitte November 2013 bis im Dezember 2013 nach Syrien in das Herrschaftsgebiet der kriminellen Organisation «Islamischer Staat im Irak und in Grosssyrien» (ISIG) gereist sein. Dort soll er sich einer Kampftruppe angeschlossen haben.

Die Winterthurer An'Nur-Moschee ist mittlerweile geschlossen.
Die Winterthurer An'Nur-Moschee ist mittlerweile geschlossen.
Keystone

Laut der Anklageschrift hat der Islamische Staat in diesem Zeitraum «unzählige terroristische Aktivitäten» begangen – etwa gegen Zivilisten gerichtete Selbstmordattentate, der Einsatz von Chemiewaffen, sexuelle Gewalt gegen die Bevölkerung oder Exekutionen.

Was der Beschuldigte konkret getan hat, ist nicht abschliessend geklärt – und auch für die ihm vorgeworfenen Taten gilt die Unschuldsvermutung. Die Anklage ist sich aber sicher, dass der 34-Jährige bewaffnete Wachdienste und auch Kampfeinsätze geleistet hat, wofür er in Militärcamps ausgebildet worden sei.

«Ganz krass und streng»

Die Bundesstaatsanwaltschaft stützt die Vorwürfe unter anderem auf Nachrichten, die der Beschuldigte selbst versendet hat – unter anderem an seine «weltliche Ehefrau». Diese wiederum habe einer Freundin von den Tätigkeiten des Beschuldigten berichtet. «Morgen fangen sie mit dem Training an, mein Mann auch», lautete eine der Nachrichten, die die Frau im November 2013 an ihre Vertraute geschickt hat.

Am 22. November 2013 schrieb die Ehefrau wiederum an ihre Freundin, dass der Beschuldigte ihr mitgeteilt habe, dass er krank sei und dass das Trainingslager «ganz krass und streng» sei und sie nicht zurück dürften, bis sie das Training absolviert hätten. «Ich han grosse respekt vor dir würklich das du trotzdem no det bliebsch», antwortete sie ihm laut Anklageschrift.

Personen angeworben

Die Vorwürfe der Bundesstaatsanwaltschaft würden auch Fotos belegt. Auf diesen posiert der Beschuldigte laut Anklageschrift schwer bewaffnet in Kampfmontur – manchmal mit einem schwarzen Stirnband mit dem islamischen Glaubensbekenntnis oder dem erhobenen Zeigefinger, eine charakteristische Handbewegung der Kämpfer für den Islamischen Staat.

Im Dezember 2013 reiste der Beschuldigte laut Anklage zurück in die Schweiz. Hier soll er weiter für den IS geworben haben. In der Anklageschrift heisst es, dass der Beschuldigte vornehmlich im Raum Winterthur systematisch Personen angeworben und dazu motiviert habe, sich dem IS anzuschliessen.

Zu diesem Zweck habe der Mann zusammen mit einem anderen Jihad-Reisenden – dieser ist vermutlich inzwischen in Syrien ums Leben gekommen – eine Kampfsportschule gegründet. Als weiteres Rekrutierungszentrum soll die Koranverteilaktion «Lies!» gedient haben. Der 34-jährige Beschuldigte fungierte als Schweizer Chef des Projekts.

Laut der Bundesanwaltschaft diente die Koranverteilaktion «Lies!» zur Rekrutierung von IS-Kämpfern.
Laut der Bundesanwaltschaft diente die Koranverteilaktion «Lies!» zur Rekrutierung von IS-Kämpfern.
Keystone

«Beide Projekte hatten zum Ziel, auf propagandistische Weise die Ideologie des ‹Islamischen Staates› beziehungsweise seiner Vorgängerorganisationen und des bewaffneten Jihads zu verbreiten», heisst es in der Anklageschrift. Die überwiegende Mehrzahl der aus der Deutschschweiz nach Syrien ausgereisten Personen hätte sich zuvor an der Aktion «Lies!» beteiligt oder die Kampfsportschule besucht.

Der Beschuldige ist gemäss der Bundesanwaltschaft weltweit mit einflussreichen Vertretern der Ideologie des IS in Kontakt gestanden und hat sie teilweise als Autoritäten angesehen. Darunter ist etwa ein Mann, der als höchste Autorität in der salafistisch-extremistischen Szene von Bosnien und Herzegowina angesehen wird. Er wurde von einem Gericht zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt.

Der Mann aus Bosnien und Herzegowina forderte in seinen öffentlichen Predigten dazu auf, dem IS seine Treue zu schwören. Er sagte unter anderem: «Auf dem Weg Gottes getötet zu werden, ist der einzig wahre Beweis für einen echten Gläubigen.»

Erst 2016 verhaftet

Der 34-Jährige, der sich im August vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona verantworten muss, wurde am 16. Februar 2016 festgenommen. Ein Jahr später wurde er aus der Haft entlassen – unter Auflagen.

So muss er sich etwa einer Begleitung durch den Dienst Gewaltschutz der Kantonspolizei Zürich unterziehen. Zudem muss der Beschuldigte den Behörden jederzeit Zugang zu den von ihm bewohnten Räumlichkeiten und benutzten Fahrzeugen sowie Informatikmitteln gewähren.

Sexuelle Handlungen mit Kindern

Nebst dem 34-Jährigen muss sich vom 10. August bis 12. August ein weiterer Beschuldigter vor dem Bundesstrafgericht verantworten. Auch ihm werden die Unterstützung einer kriminellen Organisation und der Besitz von Gewaltdarstellungen vorgeworfen. So besass er etwa Aufnahmen von misshandelten Frauen oder pornografische Videos mit Tieren.

Dem zweiten Angeklagten werden zudem sexuelle Handlungen mit Kindern zur Last gelegt. Er soll mit einer 15-Jährigen intim geworden sein. Sie wurde in der Folge schwanger von ihm und erlitt eine Fehlgeburt. Die Teenagerin reiste später mit ihrem Bruder nach Syrien. Inzwischen sind beide wieder in der Schweiz.

Die Anträge der Bundesstaatsanwaltschaft werden an der Verhandlung bekannt gegeben. Es gilt für alle Personen in allen Punkten die Unschuldsvermutung.

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