Bergsturz in Brienz Müssen sich die Bewohner*innen auf eine Umsiedlung einstellen?

mmi

10.6.2023

Blick auf das Dorf Brienz-Brinzauls unter dem «Brienzer Rutsch».
Blick auf das Dorf Brienz-Brinzauls unter dem «Brienzer Rutsch».
Gian Ehrenzeller/Keystone

Das Szenario eines grossen Bergsturzes in Brienz wird zunehmend unwahrscheinlicher. Das Risiko einer Umsiedlung besteht hingegen weiter. Kanton und Gemeinde haben bereits überprüft, was das für die Brienzer*innen bedeuten würde.

mmi

10.6.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Dass es in Brienz zum grossen Bergsturz kommt, wird von Tag zu Tag unwahrscheinlicher.
  • Dennoch verzögert sich die Rückkehr der evakuierten Bevölkerung auf unbestimmte Zeit. 
  • Auch steht die Frage im Raum, was passiert, wenn die Bewohner*innen nicht mehr zurückkehren können, also Umgesiedelt werden müssen.
  • Dazu hat die Gemeinde und der Kanton Graubünden bereits im Jahr 2020 eine Studie in Auftrag gegeben. 
  • Das Ergegbnis: Die 72 betroffenen permanenten Bewohner*innen könnten in der Gemeinde umgesiedelt werden.
  • Hingegen eine Knacknuss stellen Ferienwohnungen dar, wegen dem seit 2015 in Kraft getretenen Zweitwohnungsgesetzes

Den 12. Mai werden die Briezer*innen wohl nie vergessen. Ihnen blieb an jenem Freitag bis 18 Uhr Zeit, die wichtigsten Dinge zu packen, in der Hoffnung in wenigen Tagen wieder zurückkehren zu dürfen. 

Die Evakuierung ist nun schon vier Wochen alt und eine Rückkehr in die Heimat ist für die Bevölkerung nicht absehbar, wie die «NZZ» unter Berufung auf Angaben der örtlichen Behörden schreibt.

Nachdem sich die rund 2 Millionen Kubikmeter Gesteinsmassen am Berg über dem Bündner Dorf bewegten und den Notfallplan ins Rollen brachten, hat sich die Geschwindigkeit verlangsamt, so dass «erst» 40'000 Kubikmeter in kleineren Felsstürzen zu Tal donnerten, erklärte Stefan Schneider, Leiter des Frühwarndienstes an der 15. Informationsveranstaltung von vergangenem Mittwoch. 

Zwar bewege sich das Gestein über Briezn mit 600 bis 800 Millimetern pro Tag noch schnell. Aber nicht so schnell, wie es Geologen in ihren Modellen vorhersagten.

Damit werde wahrscheinlicher, dass das Gestein in Form von Felsstürzen oder einem Schuttstrom sich talwärts bewege. Je länger die Verschiebungen am Berg andauerten, desto unwahrscheinlicher werde ein Bergsturz, sagte Schneider weiter.

Ausschliessen kann man einen Bergsturz laut Schneider aber weiterhin nicht. Allfällige Lockerungen der Sicherheitsmassnahmen könne erst diskutiert werden, wenn dieses Szenario definitiv ausgeschlossen werden könne. Ob dies in den nächsten Tagen, Wochen oder gar Monaten der Fall sein werde, sei unklar.

Umsiedlung wird schon länger geprüft

Die Unberechenbarkeit des Berges ist eine ernüchternde Nachricht für die Bewohner*innen des Bergdorfes und lässt mittlerweile die Frage aufkommen, ob sie überhaupt jemals wieder nach Brienz zurückkehren können. 

Sollte das Dorf von einem Bergsturz getroffen werden oder infolge der Rutschung nicht mehr bewohnbar sein, müssten die Einwohner umgesiedelt werden. 

Müssten 72 ständige Bewohner wegziehen, würde das den Neubau von insgesamt 37 Wohnungen bedeuten. Knapp 300 Wohnungen wären es, rechnet man die Zweitwohnungen sowie die potenziell gefährdeten Wohnungen im westlichen gelegenen Vazerol dazu.

Es wäre die grösste Umsiedlungsaktion, die in der Schweiz je stattgefunden hätte.

Knacknuss Ferienwohnungen

Wie eine Umsiedlung in diesem Ausmass zu stemmen wäre, wollte die Gemeinde Albula wissen und gab gemeinsam mit dem Kanton Graubünden bereits im Jahr 2020 eine Studie in Auftrag. Als Präsident der «Kommission Siedlung» informierte Benno Burtscher ebenfalls am Mittwochabend die Brienzer Bevölkerung über den aktuellen Stand und die neusten Erkenntnisse.

Insgesamt habe man zehn Umsiedlungsstandorte geprüft, erklärte Burtscher. Alle davon befinden sich in der Gemeinde Albula. Im Jahr 2019 hätten rund zwei Drittel aller Brienzerinnen und Brienzer bei einer Umfrage angegeben, im Falle einer Umsiedlung in der Gemeinde wohnhaft bleiben zu wollen. Damit wäre der Platzbedarf für den Bau der Wohnungen von Einheimischen grundsätzlich gedeckt.

Allerdings braucht es für eine definitive Sicherstellung der Standorte sowie Anpassungen im kantonalen Richtplan. Diese wurden demnach bereits geprüft und sollen noch in diesem Herbst der Öffentlichkeit vorgelegt und anschliessend zur Genehmigung eingereicht werden.

Weit komplizierter wäre es, die Ferienwohnungen in dem Gebiet umzusiedeln. Laut dem Zweitwohnungsgesetz wäre der Wiederaufbau von betroffenen Ferienwohnungen an einem anderen Ort nicht zulässig. Ob die betroffenen Wohnungen in Brienz aufgrund der ausserordentlichen Situation trotzdem ersetzt werden dürfen, ist gemäss der Studie noch zu klären.

Grosse Fragen um die finanzielle Entschädigung der Bewohner

Neben dem Umgang mit den Zweitwohnungen gibt es auch aus finanzieller Sicht viele offenen Fragen. So ist beispielsweise noch unklar, inwiefern Haus- oder Wohnungsbesitzer in Brienz entschädigt werden sollen. Diese Frage ist besonders prekär, da sich die Antworten je nach Grund der Umsiedlung massiv unterscheiden können.

Während bei Bergstürzen grundsätzlich der Neuwert eines Hauses von der Gebäudeversicherung gedeckt ist, wird den Bewohnern bei einer präventiven Umsiedlung voraussichtlich nur der Zeitwert des Gebäudes vom Bund erstattet. Wie die Bevölkerung bei einem freiwilligen Wegzug oder für das nicht versicherte Bauland entschädigt wird, ist hingegen gänzlich ungeklärt.

Laut Burtscher handelt es sich bei diesen Fragen um zentrale Punkte, die dringend geklärt werden müssen. Deshalb habe die Kommission Siedlung bereits im vergangenen April einen ausführlichen Fragenkatalog an Bund und Kantone übermittelt.

Sobald die Antworten vorliegen, könne die Kommission ihre Arbeit wieder aufnehmen. Bis zum Vollzug einer allfälligen Umsiedlung rechnet Burtscher mit einer Zeitspanne von mindestens zwei bis drei Jahren.

Behörden würden Umsiedlung anordnen, Wiederspruch zwecklos

Ob sich die Bevölkerung aber überhaupt mit einem Wegzug anfreunden kann, wird erst die Zukunft zeigen. Noch ist eine Umsiedlung für die meisten der letzte Ausweg. Wenn irgendwie möglich, möchten die Bewohnerinnen und Bewohner von Brienz in ihrer Heimat bleiben.

Die Entscheidung dafür liegt allerdings nicht in ihrer Hand. Ordnen die Behörden eine Umsiedlung an, gibt es keinen Widerspruch.