Schweizer Spitäler Long Covid bleibt – und bleibt vor allem rätselhaft

Von Gil Bieler

8.5.2022

Ein Arzt an der Klinik Moncucco in Lugano untersucht eine Patientin mit Long-Covid-Symptomen.
Ein Arzt an der Klinik Moncucco in Lugano untersucht eine Patientin mit Long-Covid-Symptomen.
Bild: Keystone/Ti-Press/Alessandro Crinari

Wie viele Menschen in der Schweiz unter Long Covid leiden, weiss niemand. Das Beratungsangebot an Schweizer Kliniken ist aber stark nachgefragt – und lässt eine Annäherung an die rätselhafte Krankheit zu.

Von Gil Bieler

Die letzten Schutzmassnahmen sind vor rund einem Monat weggefallen, Long Covid ist geblieben – und bleibt ein Mysterium. Weder Bund noch die Weltgesundheitsorganisation können genaue Angaben dazu machen, wie viele Menschen sich zum Teil auch noch Monate nach einer Corona-Infektion mit Symptomen herumschlagen.

Die WHO nennt immerhin Schätzwerte: Zwischen 10 und 20 Prozent der Betroffenen leiden mittel- oder langfristig unter Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten, Atemproblemen oder anderen Beschwerden.

Die Forschung steht bei Long Covid noch am Anfang, eine schweizweite Datenbank zu Fällen gibt es nicht. Doch nehme der Bundesrat Long Covid ernst, betonte Gesundheitsminister Alain Berset Ende März im Interview mit blue News, «aber wir wissen über diese Krankheit noch sehr wenig». Erst müsse die Forschung mehr Erkenntnisse zu dieser relativ neuen Erkrankung erarbeiten.

Long Covid

  • Von Long Covid oder Post Covid spricht man, wenn die Symptome einer Covid-19-Erkrankung längere Zeit anhalten. Dazu zählen Erschöpfung (Fatigue), Atemprobleme, Vergesslichkeit, Zerstreutheit, Konzentrationsschwierigkeiten und anderes.
  • Eine einheitliche Definition von Long Covid gibt es nicht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO spricht von Fällen, in denen die Symptome mindestens drei Monate nach einer Erkrankung anhalten und nicht durch eine andere Diagnose erklärbar sind.
  • Die Symptome können während der Erkrankung oder auch erst danach auftreten.

Um eine Ahnung davon zu bekommen, wie gross das Problem in der Schweiz ist und wer am häufigsten betroffen ist, muss man also an der Front nachforschen: Diverse Spitäler bieten mittlerweile Long-Covid-Sprechstunden an, und eine Umfrage bei vier Kliniken zeigt: Die Nachfrage ist gegeben und steigt tendenziell weiter an. Und: Long Covid betrifft nicht nur Ältere.

Frauen häufiger betroffen als Männer

«Die Zuweisungen durch Hausärzte haben seit Februar deutlich zugenommen, aktuell sehen wir im Schnitt acht bis zehn Patienten pro Woche», sagt Silvio Brugger. Er ist Oberarzt der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene am Universitätsspital Zürich.

Insgesamt seien seit Anfang 2021 rund 150 Personen durch ihre Hausärtz*innen in die Long-Covid-Sprechstunde zugewiesen worden. Dabei handle es sich zu 80 Prozent um Frauen, die meisten seien zwischen 25 und 45 Jahren alt. Hinzu kämen Patient*innen, die wegen einer Covid-19-Erkrankung längere Zeit im Spital behandelt werden mussten, wodurch sich Gesamtzahl der Patient*innen «mindestens verdoppelt».

Nur wegen eines leichten Hustens landet man freilich nicht in der Sprechstunde: «Die meisten jener Patienten, die durch den Hausarzt überwiesen werden, sind zu diesem Zeitpunkt bereits von der Arbeit krankgeschrieben.» Die Betroffenen seien also in ihrer Lebensqualität stark eingeschränkt.

Zu den Hauptsymptomen gehören laut Brugger Erschöpfung, reduzierte Belastbarkeit, Gedächtnisstörungen, Atemnot während erhöhter Belastung sowie Brustkorbschmerzen. Geruchsstörungen seien mit den neueren Virusvarianten dagegen seltener geworden.

Die Rückmeldungen aus den anderen Kliniken weisen viele Parallelen auf. Auch beim Kantonsspital Aarau heisst es: «Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer», im Durchschnitt seien die Sprechstunden-Patient*innen 25 bis 40 Jahre alt. Es gebe zwischen drei und sechs Neueinweisungen pro Woche. Als häufigstes Symptom trete Fatigue auf, wobei auch die kognitiven Eigenschaften beeinträchtigt seien. Störungen des Geruchs- und Geschmackssinns seien ebenfalls zu beobachten, zudem Kopf- und Gliederschmerzen sowie Schwindel.

Die Sprechstunde des Inselspitals Bern werden «stark genutzt, vor allem von Patientinnen und Patienten mit andauernder Müdigkeit und Atembeschwerden», teilt die Kommunikationsverantwortliche Brigitte Hager mit. Je länger die Pandemie dauere, desto stärker habe die Nachfrage zugenommen – «und dieser Anstieg hält an». In Bern kämen Frauen über 50 etwas häufiger als Männer in die Beratung, betroffen seien aber alle Altersgruppen.

Am Kantonsspital Graubünden werden 15 Patient*innen pro Woche behandelt, die Nachfrage sei unverändert hoch. Und wie andernorts zeigt sich auch hier: «Es sind überwiegend jüngere Betroffene zwischen 18 und 40 Jahren und ohne Vorerkrankungen.»

Die Suche nach der besten Therapie

Unter Long Covid scheinen gemäss diesen Rückmeldungen Frauen häufiger als Männer zu leiden, und besonders oft Personen zwischen 20 und 40 Jahren. Bleibt die Frage, wie den Betroffenen geholfen werden kann. Weil die Symptome so diffus sind, gibt es auch hier keine einfache Antwort: Die Behandlung wird anhand neurologischer, kardiologischer und pneumologischer Abklärungen festgelegt, die Patient*innen werden beispielsweise in eine Physio- oder Ergotherapie geschickt.

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Die Frage nach der besten Therapieform steht bei Long-Covid-Geplagten ganz oben auf der Prioritätenliste, weiss auch Milo Puhan. Er ist Professor für Epidemiologie an der Universität Zürich und forscht dort mit Kolleg*innen zum Thema. «Die Betroffenen wollen ganz klar Evidenz darüber haben, welche Therapien ihre Symptome lindern oder sogar heilen», erklärte er kürzlich bei SRF. «Leider weiss man noch zu wenig, welche Behandlungen wirken und welche nicht. Daher ist die oberste Priorität der Forschung, mehr über wirksame und unwirksame Therapien zu erfahren.»

Solange Long Covid noch nicht hinreichend erforscht sei, sei auch eine schweizweite Datenbank wenig sinnvoll, erklärt BAG-Mediensprecherin Simone Buchmann auf Anfrage: «Bevor ein Register/eine Meldestelle aufgebaut werden kann, muss klar sein, welches Ziel diese Massnahme verfolgt und welchen zusätzlichen Nutzen sie bringt in Ergänzung zu bereits existierenden Erhebungen.»

Die BAG-Sprecherin stützt Aussagen von Bundesrat Berset: «Die Frage muss sein: Wie lassen sich am besten Erfahrungen sammeln, um den Betroffenen zu helfen? Wenn ein Register hierbei matchentscheidend sein sollte, dann muss man sicher darüber diskutieren», sagte der SP-Politiker im März zu blue News.

Eine positive Note

An der Front kann man nicht zuwarten. Am Unispital Zürich soll das Sprechstunden-Angebot nun ausgebaut werden, am Inselspital Bern ist dies im Bereich der Pneumologie und Neurologie – also für Atembeschwerden und Fatigue – bereits geschehen. Am Kantonsspital Aarau dagegen ist ein Ausbau des Angebots kein Thema, am Kantonsspital Graubünden ist dies «derzeit nicht möglich».

Zumindest etwas Gutes lässt sich im Klinikalltag beobachten: «In vielen Fällen schlägt die Therapie an», erklärt Oberarzt Silvio Brugger. Die meisten Long-Covid-Patient*innen am Unispital Zürich könnten später wieder in gewohntem Umfang in den Berufsalltag einsteigen. «Wie lange dieser Prozess dauert, ist sehr individuell. Aber wir sprechen hier von Wochen bis Monaten, nicht von Tagen.»

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