Externer Bericht zeigt Lücken bei der Pandemievorbereitung auf
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat im ersten Pandemiejahr seine Aufgaben «grundsätzlich gut bewältigt», wie eine externe Evaluation zeigt. Jedoch gibt es insbesondere bei der Krisenvorbereitung und beim Krisenmanagement Luft nach oben.
26.04.2022
Arg positiv fällt die Corona-Bilanz des Bundesamts für Gesundheit für den Infektiologen Andreas Cerny aus: Vieles sei verschlafen worden, bei den Impfstoffen habe man Glück gehabt. Mehr Lob gibt es aus ökonomischer Warte.
Es war eine kleine Corona-Tradition: Während zweier Jahre traten die Fachleute des Bundesamts für Gesundheit (BAG) regelmässig vor die Kameras, um den Journalist*innen und der Bevölkerung die aktuelle Situation zu erklären.
Am 22. März fand die «vorerst letzte Medienkonferenz» des BAG statt, seither wurde es ruhig um die BAG-Experten. Doch am Dienstag zog es Direktorin Anne Lévy nochmals vor die Medien, um Bilanz zu ziehen – oder eher: Bilanz ziehen zu lassen. Das BAG hatte das Forschungszentrum Interface damit beauftragt, die Arbeit der Behörden von Beginn der Pandemie bis zum Juni 2021 zu untersuchen.
Das Zeugnis fällt überwiegend positiv aus. Die Behörden von Bund und Kantonen hätten im ersten Pandemiejahr «weitgehend angemessen und zeitgerecht reagiert». Für Lévy, die die Leitung des BAG im Oktober 2020 im Sturm der Pandemie übernommen hat, ist dies eine Erleichterung.
Tolggen im Reinheft gab es jedoch zu Beginn der Pandemie. Zu schlecht sei die Schweiz trotz Epidemiengesetz und Pandemieplan vorbereitet gewesen, resümierte Studienleiter Andreas Balthasar.
Auch die zweite Welle im Herbst 2020 sei unterschätzt worden, was zu einer höheren Übersterblichkeit geführt habe. Die Fehler in den ersten Monaten seien nicht erstaunlich, sagt Anne Lévy als Reaktion. «Das Wissen über die Krankheit war zu dieser Zeit nur spärlich vorhanden, und die Krise in diesem Ausmass undenkbar.»
Corona-Chronologie I: 2020
- 24. Februar erster Corona-Fall im Tessin
- 28. Februar Der Bundesrat ruft Besondere Lage aus
- 16. März Der Bundesrat ruft Ausserordentliche Lage aus
- Anfang April Die erste Welle erreicht ihren Höhepunkt
- 2. April Die «Swiss National Covid-19 Science Taskforce» nimmt ihre Arbeit auf
- 19. Juni Rückkehr zur Besonderen Lage – Kantone und Bund teilen sich die Verantwortung
- 19. Oktober Bund führt Maskenpflicht in öffentlichen Einrichtungen ein
- Ab Oktober Die Taskforce nimmt an BAG-Pressekonferenzen zu COVID-19 teil
- Mitte November Die zweite Welle erreicht ihren Peak
- 23. Dezember: Die Impfkampagne startet mit dem Pfizer/Biontech-Impfstoff
Für Andreas Cerny, Infektiologe an der Klinik Moncucco in Lugano, ist es jedoch bis heute nicht nachvollziehbar, warum die Behörden zu diesem Zeitpunkt nicht auf die vorgesehenen Strukturen zurückgegriffen hatten. Anstatt die bereits bestehende Eidgenössische Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung einzuberufen, habe man zum Beispiel «in einer Nacht- und Nebelaktion» die unabhängige wissenschaftliche Taskforce ins Leben gerufen.
«Das Gremium ist zwar hochkarätig besetzt, war aber nicht darauf vorbereitet, mit den Behörden zusammenzuarbeiten.»
Andreas Cerny
Infektiologe
«Das Gremium ist zwar hochkarätig besetzt, war aber nicht darauf vorbereitet, mit den Behörden zusammenzuarbeiten», kritisiert Cerny. Dies habe den Austausch mit der Wissenschaft weiter verzögert: Die Taskforce konnte erst Anfang April 2020, über einen Monat nach Auftreten des ersten Corona-Falls in der Schweiz, ihre Arbeit aufnehmen. Ihre Warnungen vor der zweiten Welle seien zudem von den Behörden nicht ernstgenommen worden, sagt Cerny im Gespräch mit blue News.
Mit Altlasten in die Pandemie
Dass die Schweiz vom Virus so eiskalt erwischt worden sei, habe auch damit zu tun, dass die Behörden seit Jahren bekannte Mängel nicht aufgearbeitet hätten, kritisiert Cerny.
Die externe Analyse greift diese länger bestehenden Probleme ebenfalls auf. Zum Beispiel fehlten klare Regeln zu den Vorräten an Schutzmaterial – weswegen es zu Beginn der Pandemie an Desinfektionsmitteln, Masken und Schutzanzügen gefehlt habe. Auch eine digitale Strategie habe es nicht gegeben. Diese Punkte hätten im ersten Corona-Jahr nicht gelöst werden können.
Und wie hat die Schweiz das erste Pandemiejahr aus wirtschaftlicher Sicht gestemmt? «Viel Schlimmeres» habe die Schweiz durch zügiges und schnelles Handeln in der ersten Welle verhindert, sagt Jan-Egbert Sturm, Direktor der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Die erste Welle habe sie im Vergleich mit den umliegenden Ländern gut gemeistert. «Doch dieser Vorteil wurde in der zweiten Welle zunichte gemacht», zu zaghaft seien die Behörden vorgegangen.
Seither habe sich viel getan, die Gesellschaft habe sich an das Virus gewöhnt, der Zeitdruck in der Bekämpfung habe abgenommen. «Die Schweizer Systeme haben einigermassen mithalten können», sagt Sturm. Aus der ersten und zweiten Welle habe man zudem gelernt, dass sich die Wirtschaft überraschend schnell erholt im Vergleich zu den Erfahrungswerten aus der Finanzkrise im Jahr 2009. «Damals hat diese Erholung um einiges länger gedauert.»
Corona-Chronologie II: 2021
- 18. Januar Die Massnahmen werden weiter verschärft
- Anfang April Die dritte Welle (Alpha-Variante) erreicht ihren Höhepunkt
- 21. April Der Bundesrat präsentiert das Drei-Phasen-Modell
- Ab Juni können sich auch Jugendliche ab 12 Jahren impfen lassen
- 11. August Die sogenannte Normalisierungsphase im Drei-Phasen-Modell des Bundesrats beginnt
- Anfang September Die vierte Welle (Delta-Variante) erreicht ihren Höchststand
- 13. September Die 3G-Zertifikatspflicht wird stark ausgeweitet
- November In Südafrika wird zum ersten Mal die Omikron-Variante nachgewiesen
- 20. Dezember Das Zertifikat wird auf Geimpfte und Genesene (2G) eingeschränkt
Auch das BAG hat Lehren gezogen. Und dieser Prozess dauere weiter an, betonte die BAG-Chefin an der Medienkonferenz. Das geschehe im Rahmen der Revision des Epidemiengesetzes und des nationalen Pandemieplans. Beides soll bis 2024 abgeschlossen sein. In der Digitalisierung habe das BAG seit letztem Sommer grosse Fortschritte erzielt, sagte Direktorin Anne Lévy. Sie führte das Corona-Zertifikat, das digitale Dashboard, aber auch das verbesserte digitale Meldesystem ins Feld.
Cerny: «Digitalisierung ist eine riesige Baustelle»
Für Cerny ist die Digitalisierung jedoch nach wie vor «eine riesige Baustelle». «Das BAG klopft sich wegen der Covid-App selbst auf die Schultern, gleichzeitig verfügen wir nach wie vor über kein geeignetes elektronisches Patientendossier», sagt der Virologe – etwas, das andere Länder schon vor Jahrzehnten eingeführt hätten.
Auch die internationale Zusammenarbeit, die in der Bewältigung einer Pandemie entscheidend sei, habe nicht funktioniert. «Die Schweiz ist im European Center of Disease Control ein weisser Fleck.» Dass Bundesrat Alain Berset in der Folge nach Rom fliegen musste, um sich über die Situation ennet der Grenze zu informieren, sei für ihn eher lächerlich.
«Geniessen Sie das Leben – aber es lohnt sich noch, aufzupassen»
Zurück zur «normalen Lage»: Der Bundesrat streicht auch die letzten Covid-Massnahmen per 1. April. Im Interview mit blue News spricht Bundesrat Alain Berset über die nächste Phase der Pandemie und Long Covid.
30.03.2022
Cerny befürchtet, dass Bern mit der am Dienstag präsentierten Bilanz zum Tagesgeschäft zurückkehren und die Pandemie für beendet erklären werde. «Die Hospitalisationen sind im Vergleich zur Vorwoche nicht gesunken», sagt er, «es gibt keine Evidenz, dass die nächste Welle nicht nächstens vor der Tür steht».
Darum dürfe man sich auch nicht auf der guten Wirkung der Impfstoffe ausruhen. «Bei den Impfungen hatten wir Glück, dass die bestellten mRNA-Impfstoffe so gut wirken», dies habe entscheidend dazu beigetragen, die Zahl der Opfer nach deren Einführung zu reduzieren.
«Eigentlich läuft die Wirtschaft in der Schweiz momentan recht rund.»
Jan-Egbert Sturm
KOF-Direktor
Doch für die Behandlung von Long Covid, ein Thema, welches vom BAG an der Medienkonferenz erst gar nicht angesprochen worden sei, sei nun für die Zukunft die Beschaffung von Medikamenten essenziell. Erst letzte Woche habe die WHO eine Empfehlung für die Versorgung mit Medikamenten abgegeben. Die Schweiz ist nach wie vor am Verhandeln. Sie drohe so, ins Hintertreffen zu geraten, sagt Cerny.
Jetzt müsse etwas vorwärtsgehen, mit dem Krieg in der Ukraine sei es umso wichtiger, beim Koordinierten Sanitätsdienst aufzuräumen und die Koordination zwischen den verschiedenen Behörden zu verbessern und die vielen bekannten Mängel zu beheben.
Die Erholung der Schweizer Wirtschaft konnte der Krieg bisher nicht aufhalten: «Eigentlich läuft die Wirtschaft in der Schweiz momentan recht rund», sagt KOF-Direktor Sturm, der Krieg habe der Erholung bisher nur einen kleinen Dämpfer versetzt.
Im Hinblick auf mögliche weitere Corona-Wellen sei es wichtig, dass jegliche Formen eines Lockdowns verhindert werden könnten. Doch auch grössere Ansteckungswelle gelte es zu vermeiden: «Wenn viele Menschen gleichzeitig erkranken, belastet das auch die Wirtschaft.» Dies hätten auch die massiven Ausfälle durch die Omikron-Welle gezeigt.
Corona-Chronologie Teil 3: 2022
- Ende Januar Höhepunkt der fünften Welle (Omikron-Variante)
- Anfang Februar wird die Quarantäne aufgehoben
- Mitte Februar wird die Zertifikatspflicht aufgehoben
- Im März 2022 sind laut Taskforce schätzungsweise über 95% der Menschen geimpft oder genesen.
- 1. April 2022 Maskenpflicht, Zertifikatspflicht und Einreisebeschränkungen werden aufgehoben, die Schweiz kehrt in die Normale Phase zurück
- Am 2. Mai 2022 will der Bundesrat die letzten Massnahmen aufheben