KurzarbeitWenn Mitarbeiter lügen müssen – und aus Angst schweigen
Von Gil Bieler
22.6.2020
In der Kurzarbeit müssen manche Angestellten mehr Stunden leisten, als offiziell ausgewiesen wird – weil die Vorgesetzten das so verlangen. Das ist illegal. Doch die Hürden, sich zu wehren, sind hoch.
Die Kurzarbeit ist eine der bevorzugten Massnahmen des Bundes, um die wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Krise zu lindern. Und sie hat sich zu einem Massenphänomen entwickelt: Bis Mitte Mai hatten gut 190'000 Firmen für rund 1,94 Millionen Personen Kurzarbeitsentschädigung beantragt – das entspricht 37 Prozent der Angestellten im Land.
Für die Betroffenen bedeutet das: Sie arbeiten weniger Stunden als normal – eigentlich. Doch wird auch getrickst: «Bluewin» weiss von Angestellten aus verschiedenen Branchen, die in Wahrheit deutlich mehr Stunden leisten, als auf dem Papier ausgewiesen werden. Dazu werden sie von den Vorgesetzten angehalten.
Am besten: Im Team absprechen
Das ist illegal. Dennoch trauen sich viele Betroffene nicht, sich zur Wehr zu setzen – geschweige denn, offen in den Medien zu reden: «Ich fühle mich ausgenutzt», sagt eine Büroangestellte*, die anonym bleiben möchte. Sie habe grundsätzlich nichts gegen Kurzarbeit einzuwenden, aber dann sollte es auch korrekt ablaufen. «Wir haben protestiert, aber den Vorgesetzten ist das egal. Was soll ich machen? Am Ende verliere ich sonst meinen Job.»
«Arbeitnehmer sind in einer solchen Situation in einer schlechten Position», sagt denn auch Lorenz Keller, Geschäftsleiter der Sektion Zürich-Schaffhausen der Gewerkschaft Unia. Sie könnten zwar das Gespräch mit dem Vorgesetzten suchen, müssten sich dafür aber exponieren.
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Kurzarbeit: Sind auch Sie betroffen?
«Wir empfehlen den Arbeitnehmenden, bei solchen Problemen innerhalb des Teams zu schauen und kollektiv das Gespräch mit den Vorgesetzten zu suchen», rät Stephanie Vonarburg, Vizepräsidentin der Gewerkschaft Syndicom. «Wenn dies nicht klappt, können sich die Betroffenen bei der Gewerkschaft und bei der Ausgleichskasse melden.» Für Arbeitnehmer, die Missstände anonym melden möchten, gibt es auch eine Whistleblower-Seite der Eidgenössischen Finanzkontrolle.
Bisher wird offenbar aber nur sehr zögerlich reagiert: Sowohl bei der Unia als auch bei der Syndicom gingen nur vereinzelt Meldungen über eine missbräuchliche Ausgestaltung der Kurzarbeit ein. Es könne aber natürlich – wie überall – sein, dass einzelne Unternehmer betrügen würden.
Dabei müssten Angestellte nicht hinnehmen, dass der Chef zum Beispiel Sitzungen ausserhalb ihrer Arbeitszeit ansetzt: Auch bei Kurzarbeit gälten dieselben Regeln betreffend Arbeitszeit, Verfügbarkeit und Abgrenzung zwischen Arbeits- und Freizeit, sagt Stephanie Vonarburg von der Syndicom. Nur eben, dass bei Kurzarbeit eine reduzierte Wochenarbeitszeit gelte – doch müsse diese genau erfasst werden.
Kurzarbeit – kurz erklärt
Als Kurzarbeit bezeichnet man die vorübergehende Reduktion oder vollständige Einstellung der Arbeit in einem Betrieb. Ein Angestellter, der normalerweise Vollzeit arbeitet, arbeitet dann zum Beispiel nur noch 50 Prozent. Die dadurch entstandene Lohnkürzung wird durch die Arbeitslosenversicherung übernommen, aber nur zu 80 Prozent. Diese Massnahme soll vorübergehende Arbeitseinbrüche ausgleichen und Kündigungen vorbeugen.
Mehr noch: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seien dazu verpflichtet, sich ungesetzlichen Weisungen zu widersetzen: «Ansonsten riskieren sie eine Strafanzeige wegen Beihilfe zum Betrug», sagt Isabelle Wildhaber, Professorin für Arbeitsrecht an der Universität St. Gallen, zum «Tages-Anzeiger». Auch sie empfiehlt Angestellten in solch einem Fall, das Gespräch mit dem Vorgesetzten zu suchen – am besten mit den Arbeitskolleginnen und -kollegen zusammen. «Man hat dann mehr Macht, und die Sache bleibt nicht an einer Person hängen.»
Sollte der Chef auf einen solchen Widerspruch mit einer Kündigung reagieren, sei dies missbräuchlich, so Wildhaber. Aber: Die Stelle wäre dennoch futsch, und man müsse vor Gericht um eine Entschädigung kämpfen. Die Hürden für Angestellte sind also hoch.
Seco will vermehrt kontrollieren
Und wie sieht es mit Kontrollen aus? Wurde einem Betrieb Kurzarbeit bewilligt, muss er der gewählten Arbeitslosenkasse alles zur Kurzarbeitsentschädigung rapportieren: Es braucht Angaben und Nachweise zur Anzahl aller Mitarbeitenden, dazu, wie viele von Kurzarbeit betroffenen sind, zu Soll- und Ausfallstunden sowie den Lohnsummen. Diese Angaben werden von der Arbeitslosenkasse dann auf ihre Plausibilität geprüft.
Für die nachfolgenden Kontrollen bereits ausbezahlte Kurzarbeitsentschädigungen sind das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) zuständig und von diesem beauftragte Treuhandfirmen. Das Seco erhalte gegenwärtig von verschiedenen Stellen Meldungen zu vermuteten unrechtmässigen Leistungsbezügen aus der ganzen Schweiz, teilt Mediensprecherin Nadine Mathys mit. Diese würden nun durch Arbeitgeberkontrollen bei den betroffenen Betrieben abgeklärt.
Zusätzlich führe man auch «stichprobenweise und eigeninitiativ» Arbeitgeberkontrollen durch. Das Seco will auch zusätzliche Prüfdienstleistungen durchführen lassen. Konkrete Angaben dazu, in welchem Ausmass diese Aufstockung erfolgt und wie viele Leistungen unrechtmässig bezogen wurden, macht man aber nicht.
Auf der Whistleblower-Seite des Bundes gingen bisher 62 Meldungen zur Kurzarbeit ein – 43 wurden laut Mathys dem Seco bereits zugestellt, 19 werden noch durch die Finanzkontrolle geprüft. Diese würden Ende Juni an das Seco weitergeleitet.
Rückforderungen bis zu fünf Jahre möglich
Werden unrechtmässige Leistungsbezüge festgestellt, «müssen die Betriebe mit entsprechenden Rückforderungen – und in eindeutigen Missbrauchsfällen mit einer Strafanzeige – rechnen», sagt die Seco-Sprecherin. Unrechtmässig entrichtete Leistungen könnten grundsätzlich bis zu fünf Jahren ab Auszahlungsdatum zurückgefordert werden.
Trotz der Missbrauchsgefahr: Generell findet man bei den Gewerkschaften, dass die Kurzarbeit ein gutes und wichtiges Instrument sei: Dadurch würde sichergestellt, dass weiterhin Lohn fliesse, sagt Keller von der Unia. Er begrüsst es auch, dass die Kurzarbeit rasch und unkompliziert genehmigt wurde.