Steinwüste statt NaturpoolFluss im Verzascatal versiegt komplett – in gerade mal 5 Tagen
Von Sara Matasci
13.8.2022
Im Tessin kann man sich an heissen Sommertagen kaum besser abkühlen als in einem idyllischen Becken an einem Bergfluss. Was aber, wenn der Fluss innert fünf Tagen völlig austrocknet?
Von Sara Matasci
13.08.2022, 00:00
13.08.2022, 15:36
Von Sara Matasci
Ende Juli war es im Tessin, wie in der ganzen Schweiz, sehr heiss. Also beschlossen wir, uns am letzten Sonntag des Monats in Sonogno, dem letzten Dorf des Verzascatals, dem Herkunftsort meiner Familie, auf fast 1'000 m Höhe zu erfrischen.
Nach einem Spaziergang und einem schnellen Mittagessen machten wir uns auf den Weg entlang des Flusses Redorta, auf der Suche nach der besten Stelle, um ein Bad im Wasser zu nehmen. Oder zumindest um unsere Füsse zu kühlen.
Wir fanden fast sofort ein schönes Becken, das bereits von einigen Touristen belagert wurde. Auch wir legten unsere Handtücher hin und genossen den Tag. Um unseren Entspannungsmoment mit anderen zu teilen, machte ich ein paar Fotos und stellte sie in meine sozialen Netzwerke. Ein bisschen neidisch waren meine Freunde schon.
Ein paar Tage später schrieb mir eine Freundin. Sie hatte die Fotos gesehen und fuhr fünf Tage später ebenfalls nach Sonogno (auch ihre Familie kommt von dort) und wollte es mir gleichtun: in den Bergen der Hitze entkommen, die in den Ebenen herrscht. Abkühlung im Bergfluss inklusive.
Doch bei der Ankunft an dem Ort, den ich am Sonntag, also nur fünf Tage zuvor besucht hatte, erlebte sie eine Überraschung. Oder besser: Sie erlitt einen Schock. «Ich habe den Badeanzug mitgebracht, aber wo ist der Pool?!», schreib sie mir – und schickte ein Foto.
Von all dem Wasser, in dem ich noch geplanscht hatte, war nicht ein einziger Tropfen übrig. Das konnten wir beide nicht glauben und nahmen an, dass wir uns beim Ort falsch verstanden haben. Doch es ist genau derselbe: «Hinter dem Gleis, unter der Brücke», und schon standen wir uns gegenüber. Kein Zweifel, wir waren am richtigen Ort.
Klar, die Fotos sprachen eigentlich für sich: die Pflanzen und die Silhouetten der Berge sind dieselben, die Steine ebenfalls. Nur ein Detail fehlte eben: das Wasser.
Nachdem ich mein ungläubiges Staunen überwunden hatte, beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen. Wie ist es möglich, dass ein Pool im Fluss in so kurzer Zeit versiegen konnte? Reicht die grosse Hitze der letzten Wochen und damit die Trockenheit aus, um dieses Phänomen zu erklären?
Mir stellten sich so viele Fragen, dass ich beschloss, mich an eine Person zu wenden, die mir hoffentlich alle Antworten geben kann: Ich zeigte Mauro Veronesi, Leiter des Amtes für Gewässerschutz und Wasserversorgung des Kantons Tessin, die Fotos.
Was halten Sie von diesen beiden Fotos?
Es sind symbolische Fotos, die die heikle Situation in einigen Regionen des Kantons gut illustrieren.
Ist es normal, dass ein Becken in einem Fluss innerhalb weniger Tage austrocknet?
In reissenden Gebirgsbächen ist es normal, dass die Fliessgeschwindigkeit je nach Niederschlagsmenge stark schwankt. Auch flussabwärts von Wasserkraftwerken kommt es in der Regel zu grossen täglichen Schwankungen der Wassermenge.
Die Tatsache, dass das Flussbett völlig ausgetrocknet ist, ist jedoch ein deutliches Zeichen dafür, dass es in diesem Jahr kaum oder gar nicht geregnet hat. Ausserdem hat der Mangel an Schnee zu einem Defizit an Wasserreserven in den Höhenlagen geführt.
Gibt es dafür weitere ähnliche Beispiele im Tessin?
Im Mendrisiotto gibt es ähnliche Vorkomnisse. Ich möchte insbesondere den Bach Gaggiolo erwähnen, der in einigen Abschnitten völlig ausgetrocknet ist. Das Gleiche gilt für einige Abschnitte der Moesa (im bündnerischen Misox, Anm. d. Red.).
Was ist die Erklärung dafür? Liegt es nur an der Hitze?
Das Phänomen lässt sich auf eine Kombination mehrerer Faktoren zurückführen: der Mangel an Schneefall in den Hochlagen im Winter, die fehlenden Niederschläge im Frühjahr, Hitzewellen sowie die touristische Komponente, die den Wasserverbrauch erhöht.
Wie geht es den Fischen in den Fliessgewässern des Tesins?
Die Fische leiden vor allem unter den hohen Temperaturen und dem Mangel an tiefen Tümpeln, in die sie sich zurückziehen können. In trockenen Flussabschnitten war die Elektrobefischung notwendig, um Fische zu bergen und zu retten.
Für Salmoniden, insbesondere Forellen, können Temperaturen über 23° Celsius tödlich sein. Im Tessin hat sich die Zusammensetzung der Fischfauna in den letzten 30 Jahren verändert, mit einer progressiven Zunahme der Arten, die hohe Temperaturen vertragen, auf Kosten der empfindlicheren Arten, wie zum Beispiel der Forellen.
In welchen Gebieten des Tessins ist die Trockenheit besonders ausgeprägt?
Die Situation ist etwas uneinheitlich, wobei das Mendrisiotto derzeit am stärksten betroffen ist.
Wie kann das Problem gelöst werden?
Im Bereich der Wasserversorgung plant und unterstützt der Kanton die Vernetzung der kommunalen Wasserleitungen, fördert den Wasseraustausch und den Bau von gemeinsamen Werken. Situationen grosser Wasserknappheit, wie wir sie derzeit erleben und die in Zukunft wahrscheinlich häufiger auftrete, werden dazu beitragen, diese Projekte zu beschleunigen.
Was kann die Bevölkerung tun, um den Schaden zu begrenzen?
Im Haushalt können wir dazu beitragen, indem wir den Verbrauch auf ein Minimum beschränken, indem wir das Wasser nicht unnötig laufen lassen, etwa beim Duschen, oder indem wir die Spülmaschine voll beladen.
Im Garten sollte man sich von der Idee des englischen Rasens verabschieden und stattdessen trockenheitsresistentes Saatgut verwenden, das weniger gegossen werden muss und weniger Pflanzenschutzmittel benötigt, was auch der Artenvielfalt zugute kommt.