«Diktatur»-Vorwurf der SVP «Ein Witz, dass ausgerechnet die Staatspartei gegen den Staat aufruft»

Von Uz Rieger

25.2.2021

Marco Chiesa, Parteipräsident SVP, schiesst gegen die Corona-Massnahmen des Bundesrats – und zielt dabei vor allem auch auf coronamüde Wähler. (Archiv)
Marco Chiesa, Parteipräsident SVP, schiesst gegen die Corona-Massnahmen des Bundesrats – und zielt dabei vor allem auch auf coronamüde Wähler. (Archiv)
Bild: Keystone

Die SVP unterstellt dem Bundesrat – gemeint ist Alain Berset von der SP –, er habe die Schweiz in eine «Diktatur» geführt. Politologe Sean Müller erklärt, was es mit dem verschärften Ton auf sich hat – und warum die Partei nicht alles falsch macht.

«Diktatur», «Alleinherrschaft», «absolute Macht des Bundesrates»: Verschiedene SVP-Politiker schiessen derzeit scharf gegen die Regierung und hier vor allem gegen Gesundheitsminister Alain Berset. SVP-Nationalrat Mike Egger bringt sogar ein Impeachment-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild ins Spiel, damit das Parlament unliebsame Bundesräte des Amtes entheben könnte.

«blue News» hat beim Politikexperten Sean Müller von der Universität Lausanne nachgefragt, was die SVP mit ihrer konzertierten Attacke bezweckt.

Typische Mischung aus bauernschlau und provokativ

Der Politologe sieht eine hauptsächliche Erklärung für die SVP-Attacke auf den Bundesrat darin, sie versuche damit in den Medien sichtbar zu sein. Parteien würden stets versuchen, Themen zu besetzen und sich in Erinnerung zu rufen. Es sei dabei «konsequent, dass sich die SVP für persönliche Freiheit einsetzt und gegen staatliche Regulierung». Schliesslich sei sie die eigentliche libertäre Partei geworden und habe in dieser Dimension die FDP rechts überholt.

Auch die Art, wie gegen die staatlichen Massnahmen protestiert werde, sei «typisch SVP, so eine Mischung aus bauernschlau und provokativ, um die Medienaufmerksamkeit zu erreichen», sagt Müller. Auch hält er die Diktatur-Aussagen an sich nicht für besonders problematisch, denn es bleibe ja bei Worten, da die SVP nicht zur Gewalt aufrufe.

Die Wortwahl hält Müller allerdings insofern für bedenkenswert, als dass die Partei selbst in der Regierung sitzt. Den Vorsitz als Bundespräsident hat derzeit SVP-Bundesrat Guy Parmelin inne, und auch Ueli Maurer als Finanzminister hat bei den Entscheiden des Bundesrats ein Wörtchen mitzureden. Ausserdem, gibt Müller zu bedenken, ist die SVP auch in vielen Kantonsregierungen vertreten, wo sie teils sogar selbst das Gesundheitsdossier verantwortet.

Zur Person
Bild: ZvG

Sean Müller ist seit Februar 2020 Assistenzprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Lausanne. Zuletzt erschien sein Buch «Der Ständerat. Die Zweite Kammer der Schweiz» im Handel, das er zusammen mit Politologe Adrian Vatter geschrieben hat.

Vorwurf mit neuer Qualität

«Insofern ist es ein bisschen ein Witz, dass ausgerechnet die Staatspartei, die vieles mitzuverantworten hat, gegen den Staat und gegen die Parteienpolitik an sich aufruft», meint Müller. Allerdings gehöre auch das zum Wettbewerb, «zum Paradox, dass man sich lauthals darüber beklagt, dass man nicht mehr alles sagen darf. Aber man kann es natürlich trotzdem sagen». Hier sei die SVP allerdings nicht allein, das betreffe auch andere Parteien, sagt der Wissenschaftler. 

Der Vorwurf mit der Diktatur sei indes schon neu, findet der Politologe. Diesen habe es seines Wissens in den vergangenen 20 Jahren so nicht wirklich gegeben. Es sei womöglich aber eine Ausprägung der Zeit. Christoph Blocher habe die SVP auf seinen Kurs getrimmt, indem man gegen die «Classe politique» gewettert habe, «die in Bern, die auf Kosten des Staates leben, sich bereichern, ohne dem Schweizer Volk zu dienen».

Kampf gegen das Verliererimage

Die nun getätigten Aussagen seien eine Zuspitzung, denn es werde ja persönlich, indem die Kritik eigentlich auf Alain Berset abziele. Es sei eigentlich nicht die ganze Classe politique gemeint und auch nicht der Bundesrat, «sondern wirklich der eine Bundesrat, der praktischerweise auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht». Auf einer strategischen Ebene sei nachvollziehbar und rational, was die SVP mache, «sie verhält sich wie eine richtige politische Partei».

Ebenfalls recht neu sei der «zugespitzte gehässige Vorwurf gegen Mitglieder der In-Group», also gegen andere Schweizer in Schweizer Institutionen. Zuvor hätten sich diese vor allem gegen «Muslime, Kosovaren, schwarze Hände, die einen Schweizer Pass stehlen wollen», gerichtet. Nun seien allerdings andere Bundesratsparteien betroffen und das habe ja auch bereits zu Gegenreaktionen geführt. So habe selbst Guy Parmelin Stellung bezogen, dass es so nicht gehe.

Ob sich die SVP mit der Attacke tatsächlich einen Gefallen tue, werde sich womöglich schon Mitte März zeigen, vermutet Müller. Es sei womöglich kein Zufall, dass die Diktatoren-Vorwürfe zwei Wochen vor der Abstimmung zur Burka-Initiative aufkämen. Die SVP habe die letzten Abstimmungen verloren – und das auch auf Gebieten, auf denen sie eigentlich stark sei, etwa nationale Souveränität oder Ausländer. Nun habe sie «ein bisschen ein Verlierer-Image». Es sei deshalb fast so etwas wie ein Verzweiflungsakt, um wieder die eigenen Themen – positiv wie negativ – zu platzieren.

SVP kann fast nur gewinnen

Gerade eine Protestpartei lebe aber davon, dass sie polarisiere. Die SVP versuche derzeit deshalb, wieder das alte Spiel zu spielen: «Wenn ihr mich ignoriert, dann überlasst ihr mir die Deutungshoheit. Und wenn ihr mir widersprecht, dann zeigt ihr, dass ihr auf der falschen Seite seid, nämlich gegen die Bürger und gegen die Freiheit.» Da könne man eigentlich nur gewinnen, meint Müller, «ausser die anderen finden andere, eigene Themen».

Derzeit könne die Strategie der SVP zudem wieder besser verfangen, vermutet der Politologe, schliesslich seien die Leute coronamüde und es gebe vermehrt Proteste gegen die Massnahmen. Nach derzeitigem Stand werde die Burka-Initiative zudem wohl angenommen – und dann könne die SVP auch wieder proklamieren, sie stünde für diese 60 Prozent der Bevölkerung.

Das von SVP-Nationalrat Mike Egger ins Spiel gebrachte Impeachment-Verfahren gegen Bundesräte sei indes wohl eher ein Versuchsballon, wie so etwas ankommt. Allerdings sei die Idee zugleich auch «völliger Unsinn», denn sie würde dem politischen System der Schweiz diametral widersprechen. Dieses baue auf «Konsensfindung, Zusammenarbeit und auf das Vertrauen, dass jemand seine Funktion auch erfüllt, wenn er in die Charge gewählt wurde – und zwar ohne Absetzung».

Konkordanz im Bundesrat könnte noch gestärkt werden

Die Idee sei für ihn auch ein «weiteres Symptom für die Unfähigkeit vieler Parteien, auf die derzeitige Situation zu reagieren. Sie kommen nicht damit klar, dass der normale Turnus – Wahlen alle vier Jahre, Abstimmungen alle drei Monate, wechselnde Koalitionen, wechselnde Gewinner und Verlierer – unterbrochen wurde.» Das bringe das ganze System durcheinander. «Jetzt suchen sich die Parteien wie ein Fluss einen anderen Weg, um an die Medien zu kommen.»



Was den als «diktatorisch» geschmähten Bundesrat angeht, meint Müller, dass die Angriffe von aussen ihren Zweck verfehlen dürften. «Die Bundesräte treffen sich jede Woche oder noch häufiger. Da ist automatisch ein starkes Kollegialitätsverständnis – egal von welcher Partei oder Sprachregion man ist – vorhanden. Man ist nur zu siebt und sitzt im selben Boot. Und wenn es heute den Berset trifft, dann trifft es Ende Jahr den Parmelin oder den Ueli Maurer. Da ist die politische Kultur der Konkordanz im Inneren des Bundesrates stark genug.»

Das sei zwar nur seine Einschätzung und man müsse natürlich abwartend beobachten, aus dem Bundesrat gebe es aber nicht mehr die Indiskretionen wie früher. Er könne sich deshalb vorstellen, dass genau das eintreten werde, was die SVP-Führung eigentlich nicht wolle – nämlich, dass die Konkordanz im Bundesrat durch den Diktatur-Vorwurf sogar noch gestärkt werde.

Zurück zur Startseite