Rösti- und Polenta-Graben Die AHV-Reform lässt die Trennlinien im Land zutage treten

Von Alex Rudolf

26.9.2022

Tamara Funiciello: «Jetzt braucht es höhere Frauen-Löhne»

Tamara Funiciello: «Jetzt braucht es höhere Frauen-Löhne»

Die Berner SP-Nationalrätin nimmt nach dem knappen Ja zur AHV-Reform die Bürgerlichen in die Pflicht: Diese hätten sich im Abstimmungskampf zur Gleichstellung bekannt und müssten nun den Worten Taten folgen lassen.

25.09.2022

Mit hauchdünner Mehrheit hat das Volk die Erhöhung des Frauen-Rentenalters von 64 auf 65 Jahre angenommen. Neben den Frauen ist eine weitere Minderheit überstimmt worden: die lateinische Schweiz.

Von Alex Rudolf

Verliert der Leitsatz, dass man Revisionen der Sozialwerke nur mit dem Segen der Gewerkschaften und der linken Parteien durchbringt, nun seine Gültigkeit? Die Erhöhung des Rentenalters für Frauen von 64 auf 65 Jahre ist Fakt – und das Ergebnis war haarscharf. 50,6 Prozent der Stimmberechtigten votierten für die Erhöhung und 49,4 dagegen – schliesslich machten 32'319 Stimmen den Unterschied.

Damit kann eigentlich niemand zufrieden sein. Nicht die Gegner*innen, die für einen Sieg wohl nur noch leicht mehr hätten mobilisieren müssen, und auch nicht die Befürworter*innen. Diese bringen eine Reform der AHV, dem wichtigsten Sozialwerk der Schweiz, gegen den Willen fast jedes zweiten Stimmenden durch.

«Wir machen morgen genau das, was wir auch bei einem Sieg getan hätten – wir kämpfen weiter für die Gleichstellung.»

Tamara Funiciello, Nationalraetin SP-BE, Co-Praesidentin SP Frauen, Mattea Meyer, Co-Praesidentin SP, Emmanuel Amoos, Nationalrat SP-VS, und Elisabeth Baume-Schneider, Nationalraetin SP-JU, von links, reagieren auf die erste Hochrechnung, beim Versammlungsort der Linken, am Sonntag, 25. September 2022 im Progr in Bern. Die Linke lehnt mehrheitlich die AHV-Vorlage und die Verrechnungssteuer-Vorlage ab, und unterstuetzt die Massentierhaltungsinitiatve. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)

Tamara Funiciello

Nationalrätin (SP/BE)

Bei den Gegner*innen nimmt man das knappe Ergebnis mit viel Nüchternheit. «Wir machen morgen genau das, was wir auch bei einem Sieg getan hätten – wir kämpfen weiter für die Gleichstellung», sagt SP-Nationalrätin Tamara Funiciello zu blue News.

Sie habe bei der Kampagne der Befürworter*innen gut zugehört und viel Zuspruch für die Gleichstellung bemerkt. «Nun sollen diesen Worten Taten folgen – es braucht Lohngleichheit, Kita-Plätze und anständige Renten.»

Beim Ja-Lager ist die Erleichterung gross. Die Knappheit des Resultats erklärt Ruth Humbel mit der Verunsicherung, die in der Bevölkerung geherrscht habe. Die Aargauer Nationalrätin (Die Mitte) begründet dies mit der «Lügen-Kampagne», die die linken Parteien verfolgt hätten. 

«Die Erhöhung des Rentenalters gab in der Bevölkerung zu denken, das sieht man am Ergebnis. Das müssen wir ernst nehmen», sagt Monika Rühl von Ecomomiesuisse, die wie Humbel im Ja-Komitee sass.

Warum taten sich bei dieser Vorlage derart grosse Gräben auf? Lukas Golder von gfs Bern sagte dem SRF, dass es bei Abstimmungen noch nie einen derart grossen Geschlechterunterschied gegeben habe. Rund 25 Prozent weniger Frauen warfen ein Ja in die Urne, als Männer dies taten.

Auffallend waren ebenfalls der Rösti- und der Polentagraben: Denn zahlreiche Tessiner, Südbündner und Westschweizer Gemeinden verwarfen die Vorlage. In der bundesrätlichen Medienkonferenz sagte Sozialminister Alain Berset (SP), man müsse die «unterschiedlichen Betrachtungen» noch genauer analysieren.

«Die Erhöhung des Rentenalters gab in der Bevölkerung zu denken, das sieht man am Ergebnis.»

Monika Rühl, Vorsitzende der Geschäftsleitung des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse, tritt zusammen mit zahlreichen bürgerlichen Politikern gegen die 99%-Initiative der Jusos an. (Archivbild)

Monika Rühl

Economiesuisse

Woher rührt der grosse Unterschied zwischen deutscher und lateinischer Schweiz? In der französischen und italienischen Schweiz habe man einen anderen Blick auf den Service public, sagt Elisabeth Baume-Schneider. Die jurassische Ständerätin der SP kämpfte gegen die AHV-Reform. «In der Romandie und im Tessin ist man offener für einen starken Sozialstaat für alle – das zeigen Abstimmungsergebnisse immer wieder», sagt sie.

Ist man in der lateinischen Schweiz frustriert? Die Erhöhung des Rentenalters für die Frauen wäre hier chancenlos gewesen. «Ich würde nicht von einer Frustration, sondern viel eher von einer Enttäuschung sprechen, denn es hat nicht viel gefehlt.»

Rühl betont, dass es nicht derart knapp war, wie es nun den Anschein macht. Denn die Reform AHV21 besteht aus zwei Vorlagen, von der die eine – bei der es um die Erhöhung der Mehrwertsteuer ging ­– recht deutlich angenommen wurde. «Ich kann mir vorstellen, dass die Vorteile der Vorlage – etwa dass die Frauen der Übergangsgeneration lebenslängliche Kompensationen erhalten – in der Welschschweiz nicht sehr präsent waren», sagt sie weiter.

«In der Romandie und im Tessin ist man offener für einen starken Sozialstaat für alle – das zeigen Abstimmungsergebnisse immer wieder»

Staenderaetin Elisabeth Baume-Schneider, SP-JU, spricht waehrend einer Medienkonferenz ueber der Klimaschutz : Jetzt erst recht!, am Dienstag, 21. Juli 2020 im Medienzentrum Bundeshaus in Bern. (KEYSTONE/Anthony Anex)

Elisabeth Baume-Schneider

Ständerätin (SP/JU)

Für kommende Reformen sei es zentral, dass vom Parlament deutlich erklärt werde, was AHV-Vorlagen konkret bedeuten. «Denn diese gehen uns alle etwas an», so Rühl.

Klar ist, dass dies noch lange nicht die letzte Abstimmung zur ersten und zur zweiten Säule war. Die Erhöhung der Renten für Frauen aus der zweiten Säule sind bereits im Parlament und für das kommende Jahrzehnt bedarf auch die AHV nochmals einer Revision. Ob es bei kommenden Urnengängen erneut ohne den Segen von Gewerkschaften und Linksparteien geht, darf angesichts des knappen Resultats bezweifelt werden.