Polit-Analyst Mark Balsiger«Das knappe Ja zur AHV-Reform ist ein Warnschuss»
Von Stefan Michel
25.9.2022
Die Bürgerlichen gewinnen bei der AHV-Reform hauchdünn, verlieren aber bei der Verrechnungssteuer erneut eine Steuervorlage: Polit-Analyst Mark Balsiger sieht in diesen Resultaten einen Gewinn für die Schweiz.
Von Stefan Michel
25.09.2022, 18:24
26.09.2022, 05:00
Von Stefan Michel
Herr Balsiger, die AHV-Reform ist hauchdünn angenommen worden. Hätten Sie so ein knappes Rennen erwartet?
Nein. Ich bin von einer soliden Zustimmung in der Grössenordnung von 55 Prozent ausgegangen. Der Verlauf der politischen Diskussion, die Parolen der Parteien deuteten darauf hin.
Warum ist es anders gekommen?
Die Linke hat die Reform der AHV mit der BVG-Situation der Frauen verknüpft und das hat viele Leute offensichtlich aufgeschreckt.
Welche Rolle spielt es, dass das Ja zur AHV-Reform so knapp ausgefallen ist?
Das ist ein Warnschuss. Hätten 60 Prozent Ja gestimmt, hätten einige Bürgerliche Lust verspürt, jetzt durchzumarschieren, zumal die Linke ihre Vetomacht verloren hätte. Aber weil das Ja so hauchdünn ausgefallen ist, bedeutet das: Bei jedem weiteren Reformschritt muss man vorsichtig vorgehen!
Die Mehrheit der Frauen war gegen die AHV-Reform, die Männer dafür. Was bedeutet das für die Schweiz?
Ich finde es problematisch, wenn man einzelne Segmente der Wählerschaft gegeneinander ausspielt. Man könnte das bei vielen weiteren Vorlagen machen, Alt gegen Jung, Stadt gegen Land, die Romandie gegen die Deutschschweiz. Das sorgt nur für Unfrieden. Die brisanteste Konfliktlinie der Schweiz ist seit Gründung des Bundesstaates jene zwischen Stadt und Land, wobei inzwischen die Agglomeration entscheidet, zu wessen Gunsten das Pendel ausschlägt.
Zur Person
Mark Balsiger war Journalist, baute in Bosnien eine multiethnisch besetzte Radiostation auf und war Sprecher des VBS. Seit 2002 führt er eine Kommunikationsagentur. Er ist Autor mehrer Bücher über politische Kommunikation.
Die Zusatzfinanzierung der AHV über die Erhöhung der Mehrwertsteuer war weniger umstritten. Wie interpretieren Sie dieses Resultat?
Das klassische Mehrwertsteuer-Argument ist: Ihre Erhöhung ist unsozial, da sie Wenigverdienende stärker trifft als Gutverdienende. Aber die 0,4 Prozent mehr sind bescheiden, beim Warenkorb des täglichen Bedarfs sind es sogar nur 0,1 Prozent. Da haben einige gerechnet und erkannt: Das ist nicht einmal ein Kaffee pro Monat. Darum hat dieses Argument nicht gestochen.
Zur Verrechnungssteuer: Erneut versenkt die Schweizer Stimmbevölkerung eine Steuererleichterung. Was sagt das über sie aus?
Der Parolenspiegel – Bürgerliche inklusive Grünliberale dafür, Links-Grün dagegen – hätte das nicht erwarten lassen. Der Grund für das Nein ist die politische Grosswetterlage: der Krieg in der Ukraine, steigende Energiepreise, Inflation. Da glaubten viele Leute nicht daran, dass mehrere hundert Millionen Franken an Steuerausfällen einfach so kompensiert würden. Ausserdem hat der Ökonomieprofessor Marius Brülhart die offiziellen Zahlen über die Steuerausfälle richtiggehend zerpflückt und seine Berechnungen hartnäckig verbreitet. Das hat bei vielen Zweifel geweckt. Und im Zweifel stehen die Schweizerinnen und Schweizer einem Nein näher, nicht nur bei Steuervorlagen.
«Im Zweifel stimmen Schweizer und Schweizerinnen oft Nein, nicht nur bei Steuervorlagen.»
Haben die besonders unternehmensfreundlichen Parteien und Verbände ein Problem?
Dieses Jahr ist schon die Abschaffung der Stempelsteuer wuchtig abgelehnt worden. Trotzdem greift das Argument zu kurz, dass die Bürgerlichen und Wirtschaftsverbände ihre Steuer-Anliegen nicht mehr durchsetzen können. Vor einem Jahr, als in der Ukraine noch kein Krieg herrschte, wäre diese Vorlage durchgegangen. Zudem stand die Verrechnungssteuerreform klar im Schatten der beiden anderen Vorlagen.
Was bedeutet das Resultat für weitere Steuervorlagen?
Die Verkürzung «Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für die Mehrheit der Schweiz» wird weiterhin verwendet. Schaut man sich vergleichbare Abstimmungsresultate über die Zeit an, zeigt sich, dass die Mehrheit treu dem Bundesrat, den Mehrheiten im Parlament und auch der Argumentation der Wirtschaft folgt. Klar gibt es hin und wieder Ausreisser, so wie heute. Das zeigt, wie vital die Demokratie in der Schweiz ist.
Klar abgelehnt wurde die Massentierhaltungsinitiative. Was hat den Ausschlag dafür gegeben?
Der wichtigste Punkt: Initiativen haben statistisch einen schweren Stand. Neun von zehn werden abgelehnt. Die Initiative kam aus der links-grünen Ecke und sie hat es nicht geschafft, darüber hinaus Unterstützung zu gewinnen. Das müsste sie aber für ein Volksmehr und erst recht für ein Ständemehr, das noch schwerer zu gewinnen ist.
Kaum jemand sieht gern Bilder von Tieren in überfüllten Ställen ohne Tageslicht. Trotzdem will eine deutliche Mehrheit die Massentierhaltung nicht per Volksbeschluss abschaffen. Wieso nicht?
Die Bilder haben ihre Wirkung gezeigt, wurden aber erfolgreich herausgefordert vom Bauernverband. Er konnte die Mehrheit überzeugen, dass es den Masttieren in der Schweiz gut geht. Der Bauernverband ist die kraftvollste Organisation der Schweiz, sowohl im Parlament wie an der Urne. In Markus Ritter hat der Bauernverband zudem einen brillanten Machtmechaniker an seiner Spitze.
Fassen wir zusammen: Die AHV-Reform und die Zusatzfinanzierung werden angenommen, die Teilabschaffung der Verrechnungssteuer sowie die Initiative für ein Verbot der Massentierhaltung hingegen abgelehnt. Was sagt das über den politischen Zustand der Schweiz aus?
Es hätte für die Linke auch vier saftige Niederlagen absetzen können. Die Befürworter der AHV-Reform können aus ihrem hauchdünnen Sieg nicht schliessen, dass sie jetzt ein Momentum haben und schnell und leicht weitere Vorhaben durchbringen. Zentral ist, dass kein politisches Lager gedemütigt wurde und keine Partei vier Mal gewonnen hat.