Entsorgen statt spendenDarum werden hunderttausende Impfdosen jetzt vernichtet
Von Anne Funk
28.5.2022
Mehr als 620'000 Impfstoff-Dosen aus dem Besitz des Bundes sind unbrauchbar, da ihr Ablaufdatum überschritten ist. Eine Fehlplanung liegt laut dem BAG aber nicht vor – sondern kalkuliertes Risiko.
Von Anne Funk
28.05.2022, 06:50
28.05.2022, 09:03
Von Anne Funk
Als vor über einem Jahr die ersten Impfungen gegen das Coronavirus möglich wurden, konnten es die meisten Schweizer*innen kaum erwarten, einen Termin zur Immunisierung zu bekommen.
Impfstoff musste ausreichend zur Verfügung stehen und wurde in grosser Stückzahl vom Bund beschafft, damit jeder, der sich impfen lassen wollte, auch die Chance dazu bekommen konnte. Doch inzwischen sind die Zahlen rückläufig, die meisten Menschen haben bereits eine oder mehrere Impfungen bekommen, andere halten es nicht mehr für notwendig.
Die Folge: In der Schweiz gelagerte Impfdosen laufen ab. Etwa 620'000 Dosen des Corona-Impfstoffes von Moderna haben ihr Haltbarkeitsdatum inzwischen überschritten.
Ausfallrisiko einkalkuliert
Wie kann es passieren, dass eine so grosse Menge der Impfdosen nicht rechtzeitig verimpft wurde? Handelt es sich womöglich um eine Fehlplanung? Das sei nicht der Fall, erklärt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf Nachfrage von blue News.
Die Beschaffungsstrategie habe seit Beginn der Pandemie darauf abgezielt, das Ausfallrisiko einzelner Produkte einzukalkulieren. «Dies bedeutet im Umkehrschluss auch, dass die beschafften Volumina die tatsächlich benötigten Mengen überschreiten», so Mediensprecher Simon Ming.
Es sei «bewusst in Kauf genommen worden, dass unter Umständen zu viel Impfstoff für den Bedarf der Schweiz beschafft wurde». Ziel sei es nach wie vor, die Bevölkerung in der Schweiz «jederzeit, in jedem Szenario, mit einer genügenden Menge der wirksamsten zur Verfügung stehenden Impfstoffe zu schützen».
Corona-Politik der Schweiz ist «egoistisch»
Genau hier sieht die Alliance Sud den Knackpunkt. Die Allianz von Schweizer Nichtregierungsorganisationen setzt sich für globale Gerechtigkeit ein und bezeichnet die Politik der Schweiz während der Corona-Krise als «egoistisch».
«Die Schweiz hat vor allem für sich geschaut und zu viele Impfdosen für die eigene Bevölkerung bestellt und gehortet, statt frühzeitig über das COVAX-Programm mehr Impfstoffe an andere, ärmere Länder abzugeben», so Sprecher Marco Fähndrich zu blue News.
Aktuell befinden sich laut BAG rund 6,9 Millionen Dosen auf Lager. Sollten diese nicht verabreicht oder weitergegeben werden können, bevor das Ablaufdatum erreicht ist, müssten sie ebenfalls entsorgt werden. Allerdings bleibt dabei zu beachten, dass sich die Ablaufdaten der Impfdosen unterscheiden. Die Auslieferung an die Schweiz erfolge kontinuierlich über das Jahr verteilt in Teillieferungen.
Die Zahl der Impfdosen, die das Ablaufdatum überschritten haben, liegt laut BAG derzeit bei ungefähr 200'000 Dosen in den Kantonen und 420'500 bei Logistikbasis der Armee (LBA). All diese gesperrten Dosen seien mRNA-Impfstoffe von Moderna und können nun nicht mehr zur Verimpfung eingesetzt werden. Die Konsequenz: Sie werden entsorgt. Dies könne allerdings nur geschehen, wenn sie formal vom Bund freigegeben werden, da er Eigentümer der Impfstoffe sei. Diese Freigabe stehe aktuell noch aus.
Dass eine solche grosse Zahl an Impfdosen entsorgt werden muss, sei in der Schweiz bisher allerdings noch nicht vorgekommen. «Bis jetzt sind nur kleinere Mengen von Impfstoffen effektiv vernichtet worden, die wegen unkorrekter Lagerung, Transport oder Mängeln der Qualität nicht mehr verwendet werden dürfen», so der BAG-Sprecher. Diese würden wegen der kleinen Zahl statistisch nicht erfasst.
Weitergabe an Entwicklungsländer
Doch hätte man nicht frühzeitig handeln und einen eventuellen Überschuss an Impfdosen weitergeben können, zum Beispiel an das COVAX-Programm, einer Initiative, die weltweit einen gerechten und gleichmässigen Zugang zu Covid-19-Impfstoffen gewährleisten will?
«Die Weitergabe von Impfstoffen ist komplex», erklärt der BAG-Sprecher. Allerdings habe der Bundesrat bereits im Februar entschieden, bis Mitte Jahr maximal 15 Millionen Impfdosen weiterzugeben, wenn diese nicht für die Verimpfung in der Schweiz eingeplant werden könnten. Dies soll prioritär über den multilateralen Mechanismus der COVAX-Initiative erfolgen, heisst es in einem Communiqué des BAG vom 23. Februar.
Wie viele Dosen effektiv weitergegeben werden könnten, sei aktuell noch Gegenstand von Verhandlungen zwischen COVAX, den Herstellern und dem Bund. Dabei handle es sich um einen aufwändigen Prozess, obendrein hätten die Staaten mit tiefem und mittlerem Einkommen nur begrenzte Aufnahmekapazitäten.
Die Alliance Sud fordert nicht nur eine viel engere Zusammenarbeit des Bundes mit der COVAX-Initiative, sondern auch ein Ende der «destruktiven Blockadepolitik gegen die Aufhebung des Patentschutzes», so Fähndrich. «Die Schweiz muss die Ausnahmeregelung vom TRIPS-Abkommen akzeptieren, damit Big Pharma ihre Technologien für die Herstellung von Impfstoffen, Tests und Medikamenten gegen Covid-19 freigibt.»
Auch müsse bereits bei der Planung die rechtzeitige Weitergabe von Impfstoffen an Entwicklungsländer berücksichtigt werden, das sei «ein Gebot der Vernunft, der Solidarität und der globalen Impfgerechtigkeit». Nur mit einer gerechten Verteilung der Impfstoffe könnten man die Pandemie langfristig unter Kontrolle bringen und die Entwicklung neuer Varianten verlangsamen.