SP-Spitze im Interview «Corona beweist: Ist der Wille da, können wir Berge versetzen»

Von Anna Kappeler und Julia Käser

27.1.2021

Teilen sich das SP-Präsidium: Mattea Meyer und Cédric Wermuth wurden am 17. Oktober 2020 zur neuen SP-Spitze gewählt. 
Teilen sich das SP-Präsidium: Mattea Meyer und Cédric Wermuth wurden am 17. Oktober 2020 zur neuen SP-Spitze gewählt. 
Bild: Keystone

Seit gut hundert Tagen führen Mattea Meyer und Cédric Wermuth die SP. Im Interview erzählen sie, wieso sie E-Mails von enttäuschten FDP-Wählern erhalten und wo der Bundesrat in der Pandemie-Bekämpfung versagt hat.

Frau Meyer, Herr Wermuth, Sie stehen für die Haltung ‹links ist links›. Ist der dezidierte Linkskurs wirklich zielführend?

Mattea Meyer: Wir sind stolz darauf, eine linke Partei zu sein. Das müssen wir nicht verheimlichen. Die Sozialdemokratie stellt die Menschen ins Zentrum, nicht den Profit für ein paar wenige. Die Corona-Krise verstärkt die Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Die Familie Blocher wurde im letzten Jahr 3 Milliarden Franken reicher, gleichzeitig muss die Caritas doppelt so viele Armutsbetroffene beraten wie in normalen Jahren. Als Sozialdemokratin weise ich auf solche Missstände hin. Stempeln uns Leute deshalb als links ab, sollen sie.

2021 gibt es keine klassischen Proletarier mehr. Was beinhaltet Ihr Kurs heute?

Cédric Wermuth: Die Idee, dass die Sozialdemokratie früher nur die engen Interessen von männlichen Industrie-Proletariern vertreten hat, ist falsch. Die SP war schon immer die Partei, die sich etwa seit Jahrzehnten für Frauenrechte eingesetzt hat – und für den Ausbau der Demokratie ganz allgemein. Die Corona-Krise zeigt, dass Hunderttausende in prekären Arbeitsbedingungen leben müssen. Ob wir sie noch Proletarier nennen wollen oder nicht, ist zweitrangig. Wichtig ist: Die SP steht auf der Seite der Lohnabhängigen, die ungenügend abgesichert sind und keine Lobby haben.

Zur Person
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Mattea Meyer (ZH) sitzt seit 2015 für die SP im Nationalrat. Bis 2019 war die Wirtschaftsgeografin Co-Präsidentin der SP Winterthur. Zwischen 2009 und 2013 amtete sie als Vizepräsidentin der Juso Schweiz. 

Meyer: Die Krise zeigt, wie viele Menschen von der Hand in den Mund leben müssen. Dass wir nach einem Jahr für solche Menschen noch immer keine politischen Mehrheiten finden, um ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern, beelendet mich.

Sie setzen sich überraschend auffällig für KMU ein. Hat Corona Sie vom Linkskurs weggebracht und eingemittet?

Meyer: Weshalb soll unser Einsatz für den Erhalt von Arbeitsplätzen überraschend sein? Die angeblich gewerbefreundlichen Parteien FDP, CVP und SVP machen in erster Linie eine Politik für die grossen Konzerne und den Finanzplatz. Und eben nicht für das Gewerbe. Hunderttausende, die sich mit Herzblut und ihrem Ersparten zum Beispiel ein Reisebüro aufgebaut haben, sehen seit einem Jahr ihr Lebenswerk völlig unverschuldet an die Wand fahren. Seit Beginn der Krise engagieren wir uns gemeinsam mit den Betroffenen für ihre Existenzsicherung. Ich habe Hunderte von E-Mails von enttäuschten FDP-Wählenden und Gewerblern bekommen. Darin beklagen sich diese bitterlich, dass die sogenannt gewerbefreundlichen Parteien sie in der Krise allein gelassen haben.

Wird die SP unter Ihnen zur Konkurrenz für die SVP und also neu zur Gewerbepartei?

Wermuth: Wir überlegen uns nicht, wo wir Wählerinnen und Wähler haben. Auch nicht, was wir konkret für diese machen könnten, damit sie uns wählen. Wir versuchen stattdessen Antworten auf reale Probleme zu finden, kurz: das zu machen, was richtig ist. Auch wenn wir das manchmal erst im Nachhinein wissen.

Zur Person
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Cédric Wermuth (AG) ist seit 2011 Mitglied des Nationalrats. Von 2008 und 2011 leitete der Strategie- und Kommunikationsberater die Juso Schweiz. 

Meyer: Mich hat die Wirtschafts-Ferne der angeblich wirtschaftsnahen Vertreter im Bundesrat schockiert.

Apropos Bundesrat: Die Schweiz reagierte in der Corona-Krise verglichen mit dem Ausland zaghaft und langsam. Die SP hatte dort vergangenes Jahr mit Bundespräsidentin Sommaruga und Gesundheitsminister Berset den Lead. Hat Ihre Partei hier versagt?

Meyer: Die Bundesratsmehrheit ist nicht links, sondern besteht aus zwei FDPlern und zwei SVPlern. Entsprechend kann diese Mehrheit nicht einfach übersteuert werden.

So einfach?

Meyer: Selbstverständlich hat auch das federführende Bundesamt für Gesundheit (BAG) Fehler gemacht. Alain Berset sagt heute selbst, es sei nicht sinnvoll gewesen, zu kommunizieren, dass die Masken kaum etwas nützen würden – und nun muss man sie überall tragen. Das hat sicherlich nicht Vertrauen geschaffen. Wir alle erleben diese Pandemie zum ersten Mal. Entscheidend ist, dass man anschliessend hinsteht, die Fehleinschätzungen zugibt und korrigiert. Alain Berset hat das immer wieder getan, von der bürgerlichen Seite habe ich ein Eingestehen von Fehlern bei den Wirtschaftshilfen dagegen nicht gehört.

Wermuth: In Krisensituationen gibt es Fehlentscheide, da würde ich niemandem einen Vorwurf machen wollen, auch nicht bürgerlichen Politikern und Politikerinnen. Schockiert hat mich aber die Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen. Wir sind zwischen Sommer und Winter wiederholt im Parlament gesessen und haben es schlicht verpasst, uns auf die zweite Welle vorzubereiten, weil eine Mehrheit nichts tun wollte. Als Bürger dieses Landes hat es mich enttäuscht, dass man die Menschen an der Front in den Spitälern und Alterszentren die Verantwortung hat tragen lassen.

Meyer: Das Versprechen, dass niemand in diesem Land im Stich gelassen wird, muss eingehalten werden. Gesundheitliche Massnahmen erfordern parallel immer auch wirtschaftliche Abfederungsmassnahmen.

Und wer zahlt das alles?

Meyer: Erstens kommt uns nichts machen langfristig teurer, weil dann Firmen Konkurs gehen und Menschen arbeitslos werden. Zweitens: Die Schweiz hat international gesehen relativ wenig Schulden. Knausrig ist sie trotzdem. Und drittens ist es scheinheilig, wenn derselbe SVP-Bundesrat einerseits nicht nochmals 30 Milliarden Franken für die Linderung der Krise sprechen will, andererseits aber den Versicherungen jährlich zwei Milliarden Franken an Steuersenkungen gewähren möchte.

Nochmals: Wer zahlt langfristig?

Meyer: Um langfristig aus der Krise rauszukommen, braucht es ein Konjunkturprogramm für Klimaschutzmassnahmen sowie eines im Pflegebereich. Das wiederum lässt sich anhand einer Extra-Steuer für Krisengewinner finanzieren. Viele tun dies als linke Forderung ab. Im Grunde aber wurde die Idee vom Wirtschaftsberater des Bundesrats und Leiter der Konjunkturforschungsstelle, Jan-Egbert Sturm, ins Spiel gebracht.

«Ich habe Hunderte von E-Mails von enttäuschten FDP-Wählenden und Gewerblern bekommen. Darin beklagen sich diese bitterlich, dass die sogenannt gewerbefreundlichen Parteien sie in der Krise allein gelassen haben», sagt Mattea Meyer.
«Ich habe Hunderte von E-Mails von enttäuschten FDP-Wählenden und Gewerblern bekommen. Darin beklagen sich diese bitterlich, dass die sogenannt gewerbefreundlichen Parteien sie in der Krise allein gelassen haben», sagt Mattea Meyer.
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Sie haben den Bürgerlichen vorgeworfen, Tote in Kauf zu nehmen. Wäre es jetzt nicht an der Führung der zweitgrössten Partei, an die Einheit des Landes zu appellieren?

Wermuth: Ein Appell nützt nichts, wenn er keine politischen Folgen hat. Fakt ist, dass wir uns in einer Phase der Krise befinden, die sehr politisch ist. Ob wir das Pflegepersonal unterstützen oder Unternehmen retten, sind politische Entscheide. Ich weigere mich – nur für ein Bedürfnis der Einheit – die Verantwortlichen aus der Verantwortung zu ziehen.

Im ersten Lockdown wurde von allen Parteien betont, man stehe die Krise zusammen durch. Dieses Gefühl bröckelt. Da sind Sie als Parteichefs doch in der Verantwortung?

Meyer: Es stimmt, dass man diese Pandemie nur gemeinsam meistern kann. Deshalb suchen wir seit Beginn nach konkreten Lösungen und Kompromissen, zum Beispiel bei der Erwerbsersatzentschädigung oder einem 100-prozentigen Lohnersatz bei tiefen Einkommen. Gleichzeitig können wir aber nicht die Verantwortung übernehmen für die bürgerlichen Parteien, die sich davon verabschiedet haben, diese Krise zu lösen. Würden wir das ignorieren, würden wir die Leute im Stich lassen – und genau das ist es, was wir nicht tun wollen.

Gehen wir einen Schritt weiter. Die Grünen präsentierten am Wochenende einen Klimaplan, der nicht gerade radikal daherkommt – Stichwort Netto-Null bis 2040. Wo steht die SP beim Klima?

Wermuth: Die Grünen stellen mit ihrem neuen Klimaplan jetzt auch grundsätzliche Fragen zu unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Das freut, bisher waren wir da allein unterwegs. Klimapolitik bedeutet eben nicht einfach, drei Teslas mehr vor dem Haus zu parkieren. Es geht ganz fundamental darum, was die sozialen Auswirkungen davon sind, wie wir was produzieren. Nur dann, wenn ein Wirtschaftssystem den Menschen eine Perspektive bietet und die internationale Dimension ernsthaft integriert, ist es gut.

Das klingt harmonisch, wahr ist aber auch: Die Grünen haben Ihnen bei den Wahlen 2019 Wählerinnen und Wähler gestohlen.

Wermuth: Die Grünen sind für uns der entscheidende Partner, wenn es ums Klima geht. Wir hatten immer schon Mühe damit, wenn man versucht hat, die SP bei der Klima-Frage gegen die Grünen auszuspielen. Das Ziel ist es, dieses Land klimafreundlicher zu machen. Jeder Vorschlag, der das konkretisiert, ist zu begrüssen und gemeinsam im Parlament umzusetzen. Ich sehe da keine Konkurrenz.

Meyer: Natürlich hat die Niederlage geschmerzt. Insgesamt aber sind wir auf der linken Seite stärker geworden – und das zählt. Die Schweiz hat jahrzehntelang die wissenschaftlichen Hilferufe ignoriert. Diese Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Fakten zeigt sich nun im Kampf gegen die Pandemie und eben auch im Umgang mit der Klimakrise.

Cédric Wermuth: «Als Bürger dieses Landes hat es mich enttäuscht, dass man die Menschen an der Front in den Spitälern und Alterszentren die Verantwortung hat tragen lassen.»
Cédric Wermuth: «Als Bürger dieses Landes hat es mich enttäuscht, dass man die Menschen an der Front in den Spitälern und Alterszentren die Verantwortung hat tragen lassen.»
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Es muss frustrierend sein, als Linke jahrelang für das Klima zu kämpfen – ohne grosse Wirkung. Und nun kommt ein Virus und plötzlich kann die Schweiz Milliarden ausgeben.

Meyer: Im Gegenteil, das Ganze gibt mir Hoffnung. Corona beweist: Wenn der politische Wille da ist, können wir als Gesellschaft Berge versetzen. Mit denselben Überlegungen müssen wir auch die Klimakrise angehen und bewältigen.

Die SP hat bei den Wahlen 2019 verloren, Sie wurden ohne Kampfwahl ins Co-Präsidium gewählt. Findet trotzdem eine inhaltliche Auseinandersetzung statt innerhalb der Partei?

Wermuth: Und wie. Wir stecken viel Energie in die parteipolitische Auseinandersetzung. Entscheidend ist die neue Mehrheit, die sich in der Schweiz gebildet hat. Die SP muss sich fragen, wie sie stärker zu dieser Mehrheit beitragen kann. Dieser Prozess begann nicht am 19. Oktober 2019, sondern mit dem Frauenstreik und der Klimabewegung. Die Resultate 2019 waren ungenügend. Wir müssen uns als Partei trauen, in verschiedenen Fragen wieder grundsätzlichere Positionen zu vertreten. Dazu wollen wir im Laufe des Jahres einige konkrete Vorschläge machen.

Das heisst?

Meyer: Konkrete Projekte können wir zum jetzigen Zeitpunkt keine nennen, aber: Für uns beginnt und endet Politik nicht im Bundeshaus. Wir wollen die SP zum spannendsten Ort machen, wo die wichtigen Fragen der Zukunft diskutiert werden.

Sie verstehen die SP eher als Bewegung denn als Partei?

Wermuth: Das kann man schon so sagen. Wir machen Politik mit den Menschen, nicht nur anwaltschaftlich ‹für sie›. Ich war beispielsweise vor zwei Wochen beim Bodenpersonal am Flughafen und habe mit den Mitarbeitern über ihre prekäre Arbeit diskutiert. Daraus sind gemeinsame Forderungen entstanden. Es geht darum, diese politischen Kämpfe mit der parlamentarischen Arbeit zu verbinden.

Sie sind jetzt 100 Tage im Präsidium: Was ist Ihnen bis jetzt gelungen und was nicht?

Meyer: Die Pandemie erschwert den direkten Kontakt, der uns so wichtig ist. Dennoch haben wir es geschafft, uns beispielsweise laufend mit den Branchenverbänden und Pflegefachpersonen auszutauschen. Zudem haben wir regelmässig Live-Chats organisiert, die es in dieser Form zuvor nicht gab. Die Leute konnten uns direkt ihre Fragen stellen und Inputs geben. Das stärkt unsere Politik.

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