Kolumne Brauchen wir gegen Covid-19 Champions oder einfach nur Bürger?

Von Paolo Beretta

8.4.2020

Nicht Tessiner, nicht Deutschschweizer sind jetzt gefragt, sondern einfach Schweizer.
Nicht Tessiner, nicht Deutschschweizer sind jetzt gefragt, sondern einfach Schweizer.
Bild: Keystone/Samuel Golay

Um der Pandemie Herr zu werden, setzt der Bundesrat auf Appelle statt Verbote. «Bluewin»-Redaktor und Tessiner Paolo Beretta schreibt, inwiefern das ein Risiko für Ostern darstellt, besonders auch fürs Tessin.

Seit Beginn der Corona-Krise verweisen die Bundesbehörden stets auf die grundlegenden Werte der Schweizer Gesellschaft: Das Gemeinwohl wird bewusst von einem jedem von uns geschaffen.

Jeder muss seinen Beitrag leisten

«Wir setzen auf die individuelle Verantwortung für das Gemeinwohl. Wir teilen ein gemeinsames Schicksal, das wir mit jeder einzelnen unserer Handlungen wählen», sagt Alain Berset immer wieder. Und Ignazio Cassis zitiert das an der Fassade des Bundeshauses prangende, inoffizielle Motto der Schweiz: «Einer für alle, alle für einen.»

Beider Vorgehen ist evident: Die Epidemie kann nur überwunden werden, wenn jeder seinen Beitrag leistet. Vielleicht sogar gegen sein eigenes Interesse.

Die Schweiz verzichtet auf eine Ausgangssperre, wie sie in vielen anderen mit der Pandemie konfrontierten Ländern besteht, allen voran Frankreich und Italien. Die Entscheidung ist gewagt. Weil die Gesundheit eines ganzen Volks auf dem Spiel steht.

Sicher: Wir leben längst in einer Gesellschaft, die den Individualismus auf die Spitze getrieben hat – nun aber wird vom einzelnen Bürger verlangt, zugunsten eines nicht greifbaren und zukünftigen Gemeinwohls auf einen Teil seiner Freiheit zu verzichten.

Einer für alle, alle für einen

Angst vor dem kulturlosen Individualismus haben heute vor allem Orte in den touristischen Regionen, die in den Osterferien in der Regel von Gästen überlaufen, aber für die Pandemie schlecht gerüstet sind. Und ganz oben auf der Liste steht das Tessin, das die Urlauber inständig bittet, nicht in die südlichen Alpen zu reisen.

Doch wie kann man Familien, die seit je an Ostern ins Tessin fahren und dort vielleicht sogar ein Ferienhaus besitzen, am Kommen hindern? Gewiss nicht durch Sperrung der Zufahrtstrassen, wie es einige lokale Politiker gefordert haben. Das hat Berset dann auch abgelehnt, wie es zu erwarten war. «Wir sind ein Land. Den Gotthard zu sperren, wäre ein falsches Signal.»

Die Lösung ist der unablässige Verweis auf die durch das Motto «Einer für alle, alle für einen» ausgedrückten Werte. Und das bedeutet für die schwierige Lage des Tessins nur eins: Dass nicht nur Touristen, sondern überhaupt das Schweizer Volk dieses Jahr an Ostern zu Hause bleiben – sie alle, wir alle!

Wer trotzdem verreist, muss sich bewusst sein, dass das Gesundheitswesen im Bedarfsfall ausserstande sein könnte, die erwarteten Leistungen zu erbringen. Weil Personal und Betten fehlen. Weil das Tessin mit seinen 7’100 Infizierten auf eine Million Einwohner an die gemarterte Lombardei angrenzt, die ihrerseits 5’025 Erkrankte auf eine Million Einwohner zählt. Der Schweizer Durchschnitt beträgt 2’400 Ansteckungsfälle auf eine Million.

Das Tessiner Gesundheitswesen bleibt fragil

Die Zahl der Todesfälle ist erschreckend hoch. So hatten die Behörden an den kritischsten Tagen im März beispielsweise bereits einen Ort in der Nähe der Luganer Resega zur Lagerung von Särgen identifiziert, falls die Tessiner Krematorien nicht in der Lage gewesen wären, alle Leichen einzuäschern. In jenen Momenten musste man unweigerlich an die Bilder aus Bergamo denken.

Laut Kantonsarzt Giorgio Merlani hat das Tessin den Höhepunkt der Epidemie am letzten Montag erreicht, aber die Pandemie dauert hier seit bereits fünf Wochen an. Das Gesundheitswesen ist fast vollständig ausgelastet. Es hat bisher standgehalten, bleibt jedoch fragil. Eine selbst nicht massive Ankunft von Touristen oder Eidgenossen erhöht das Risiko potenzieller Unfälle, die eine Spitalversorgung erfordern. Das würde das mühsam gefundene, aber zerbrechliche Gleichgewicht stark gefährden.

«Geisseln der Menschheit» - das waren die tödlichsten Pandemien der letzten 100 Jahre

«Geisseln der Menschheit» - das waren die tödlichsten Pandemien der letzten 100 Jahre

Hongkong-Grippe? Nie gehört? Schätzungsweise 800'000 Menschen starben an ihr Ende der 1960er Jahre. – Mit welchen anderen Pandemien die Menschheit in den letzten 100 Jahren noch zu kämpfen hatte, erfahren Sie im Video.

01.05.2020

«Ihr seid Champions», so hat Merlani die Tessiner gelobt, in einem seltenen Ausdruck seiner verhaltenen Begeisterung darüber, dass die Bevölkerung jene strengen Restriktionen, die eine Kontrolle der Epidemie ermöglichen, einhalten.

Der Bundesrat verlangt nicht von uns, Champions zu sein, die definitionsgemäss ausserordentliche Taten vollbringen, an der Grenze des Menschenmöglichen. Er bittet uns nur um eins: Wir selbst zu sein – das heisst: Schweizer. Das zu sein, woran wir glauben und was uns bei aller Verschiedenheit stets geeint hat: Schweizer Bürger, die in schweren Zeiten bewusst füreinander verantwortlich sind.

Und in den Zeiten der Coronavirus-Pandemie bedeutet das auch und vor allem eins: zu Hause zu bleiben.

Chronologie der Coronakrise
Zurück zur Startseite