Krisen der Gegenwart, Teil 1/2 «Corona war nur eine Übung»

Von Anna Kappeler

1.9.2022

Ein Kind steht vor einem zerbombten Fenster in der Region Donezk. Über den Krieg in der Ukraine sagt Politikphilosophin Katja Gentinetta: «Es bricht eine neue Zeitrechnung an.»
Ein Kind steht vor einem zerbombten Fenster in der Region Donezk. Über den Krieg in der Ukraine sagt Politikphilosophin Katja Gentinetta: «Es bricht eine neue Zeitrechnung an.»
Bild: Keystone

Kaum ist die Corona-Pandemie überstanden, überfällt Russland die Ukraine. Die Klimakrise hat sich diesen Sommer besonders stark gezeigt – und im Winter droht ein Energiemangel. Was tun? Politikphilosophin Katja Gentinetta hat Antworten.

Von Anna Kappeler

Sie kommt mit dem Velo angefahren. Die Politikphilosophin Katja Gentinetta hat als Treffpunkt für das Interview das Stapferhaus in Lenzburg vorgeschlagen, dessen Präsidentin sie seit Anfang Jahr ist. Beladen mit einem Tablett mit Kaffee und Wasser ziehen wir uns in ein Sitzungszimmer im oberen Stock zurück. 

Frau Gentinetta, wir müssen mit einer unschönen Liste beginnen: Corona-Pandemie, Krieg in Europa, Klimawandel, Rezession, Energiemangel, Taiwan-Konflikt. Wie mit dieser Häufung an Krisen umgehen?

Es bleibt uns nur, den Blick zu öffnen. Wir müssen diese Krisen in einen grösseren historischen Kontext setzen. Meine Liste beginnt 2008 mit der Finanzkrise. Darauf folgte die Wirtschafts-, die Euro- und die Griechenlandkrise. 2015 kam die Flüchtlingskrise. Für ältere Generationen beginnt die Liste mit den Weltkriegen oder mit dem Kalten Krieg. Für heute entscheidend ist: Auf den Mauerfall folgte eine Zeit, in der gefühlt lange alles in Ordnung war: Wachstum, Wohlstand, Stabilität.

Mehr Krisen, um die letzten zwei Jahre zu verkraften?

Der Blick aufs grosse Ganze wirkt relativierend. Allerdings ist der Ukraine-Krieg auch für mich eine klare Zäsur: Es ist ein brutaler Angriffskrieg auf europäischem Boden – ein Ereignis, das man naiverweise für nicht mehr möglich gehalten hatte. Zu lange glaubt insbesondere Europa, Frieden und Stabilität seien gefestigt und gegeben. Es ist der Einschnitt, der die Politik so verändern wird wie die Finanzkrise die Wirtschaft: Es bricht eine neue Zeitrechnung an, in der die Normen und Regeln überdacht und angepasst werden müssen.

Ich habe Jahrgang 1985. Und bin mit dem Gefühl des «Alles ist möglich» aufgewachsen. Dann kam Corona.

… und die Erfahrung der Möglichkeit, die Welt zum Stillstand zu bringen! Zumindest vorübergehend. Aber im Vergleich zu den politischen Herausforderungen wie der Radikalisierung und dem Krieg war Corona nur eine Übung, was unseren Umgang mit Krisen angeht.

Zur Person
zVg

Katja Gentinetta (*1968) ist seit über zehn Jahren selbstständige Politik- und Wirtschaftsphilosophin. Die promovierte Philosophin lehrt an den Universitäten Luzern und Zürich, ist Verwaltungsrätin, Mitglied des Aufsichtsrats des IKRK und Präsidentin des Stapferhaus. Sie hat mehrere Bücher publiziert, zuletzt als Mitherausgeberin von «Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert» (NZZ Verlag 2021). Im Juni 2022 erschien ihr Essay «Streitfrage Wachstum» (Westend-Verlag). 

Stimmen, die demokratische Grundwerte wie freie Meinungsäusserung und Rechtsstaatlichkeit bedroht sehen, mehren sich. Kommt es zum Kampf zwischen Demokratien und Autokratien?

Wir befinden uns bereits in dieser Systemkonkurrenz. Der Westen hat den Zusammenbruch der Sowjetunion als Sieg der Freiheit und der Marktwirtschaft gelesen und gefeiert. Das war zu siegessicher. Dass das Pendel zurückschlagen musste, war klar. Die Finanzkrise hat die freie Marktwirtschaft infrage gestellt und den linken Populismus befeuert, die Flüchtlingskrise hat dem rechten Populismus Auftrieb gegeben. Putin setzt seit Jahren alles daran, Europa zu destabilisieren, und China ist auf allen Kanälen bemüht, ihr autoritäres System als dem demokratischen überlegen darzustellen. Wir befinden uns in einem offenen Wettbewerb.

Ich bin im 7. Monat schwanger. Manchmal überkommen mich Zweifel, ob es richtig ist, ein Kind in diese Welt zu setzen. Meine Hebamme antwortete: Tiens, das Leben ist tödlich. Das hat mich seltsamerweise beruhigt. Doch was können wir diesem Gefühl der Ohnmacht entgegensetzen?

Mich überkam dieses Gefühl nach dem Terroranschlag in Paris 2015. Weil ich Paris liebe, oft dort bin und mich deshalb auch direkt persönlich bedroht fühlte. Geholfen hat mir auch hier, einen Schritt zurückzumachen – wie ich es beschrieben hatte – und zu verstehen, das solche Ereignisse in einem grösseren Kontext stehen, den wir nur beschränkt und nur unter steten Anstrengungen beeinflussen können. Wenn wir keine Kinder in die Welt mehr setzen, dann … (Pause) … gäbe es uns ohnehin schon längst nicht mehr. Wir hätten keine Möglichkeit mehr, unser Leben zu verbessern. Das wäre schade.

Ist diese Häufung an Krisen objektiv so dramatisch, wie ich sie wahrnehme?

Krise bedeutet eine bedrohliche Abweichung vom Normalzustand. Doch: Was ist der Normalzustand? In einer modernen Gesellschaft, die sich entschieden hat, ihren Geist zu benutzen und nach einem besseren Leben zu streben, kann es gar keinen ruhigen Normalzustand geben.

Die modernen Zeiten waren schon immer von Krisen geprägt?

Sie gehören zur Moderne. Die Gesellschaft ist dauernd in Bewegung. Sie will weiterkommen. Besser werden. Durch Forschung, mit Wissenschaft. Diese grosse Unruhe ist die Essenz unserer Existenz. Die Schwierigkeit für den Menschen besteht darin, dass er einerseits dieses Streben in sich hat, andererseits aber ein Gewohnheits- und auch Faultier ist.

«Die Schwierigkeit für den Menschen besteht darin, dass er dieses Streben in sich hat, aber ein Gewohnheits- und Faultier ist.»

Was tun?

2022 müssen wir uns – nach mehreren Krisen in den vergangenen Jahren – eingestehen: Wir sind in einer Ära der Umwälzung. Auch wenn der grosse historische Bogen noch so manche Krise relativiert.

Sprechen wir über mögliche Folgen des Krieges in der Ukraine. Welche Auswirkungen auf die EU und die Schweiz sehen Sie?

Die Hauptherausforderung wird die Errichtung einer neuen globalen Sicherheitsarchitektur sein. Diese zu entwickeln, wird Jahre dauern. Besonders der UNO-Sicherheitsrat ist dieser neuen Welt nicht gewachsen. Dass eines seiner Mitglieder die Verurteilung des eigenen Angriffskriegs mit seinem Veto verhindern kann, ist absurd. Der Rat ist nicht mehr handlungsfähig.

Wer muss Teil sein dieser neuen Weltordnung?

Zum einen die Mächtigen. Kein System kann bestehen, wenn es nicht geschützt und verteidigt werden kann. Zum andern die Moderaten – jene, die buchstäblich moderieren können. Anders gesagt: Ohne China, die USA und wohl auch Russland wird es nicht gehen. Europa wird sich als Verteidigerin der offenen Gesellschaft ebenfalls einbringen müssen. Aber es wird nur gehört werden, wenn es ebenfalls über eine gewisse Macht verfügt, die über eine reine Diskursmacht hinausgeht.

Auf Aufrüstung mit Aufrüstung zu reagieren, klingt für mich stark nach Kaltem Krieg. Ist eine Abrüstung langfristig nicht zielführender?

An diesem Punkt müssen wir ganz weit zurückgehen: Es gibt grob gesagt zwei Auffassungen vom Menschen. Für den Philosophen Thomas Hobbes herrschte im Naturzustand Krieg. Der Stärkere gewinnt. Jean-Jacques Rousseau vertrat das Gegenteil: Er plädierte für die Rückkehr in den harmonischen, friedlichen, vorzivilisatorischen Zustand der Natur.

«Die Hauptherausforderung wird die Errichtung einer neuen globalen Sicherheitsarchitektur sein. Diese zu entwickeln, wird Jahre dauern.»

Wer hat recht?

Der Blick auf die Geschichte und die Gegenwart gibt Hobbes recht. Aufrüstung ist deshalb nicht einfach eine Rückkehr zum Kalten Krieg. Eine rätselhafte Erkenntnis der jüngeren Geschichte lautet: Seitdem es Atomwaffen gibt und sie zweimal eingesetzt wurden, hat es nie mehr einen Atomkrieg gegeben. Und das, obwohl es immer mehr von diesen Waffen gibt.

Nennen Sie mich naiv. Ich weigere mich zu glauben, dass Aufrüstung die einzig richtige Antwort auf Krieg ist.

Ich verstehe Ihre Weigerung. Ich entgegne: Expect the best, prepare for the worst. Als politische Philosophin halte ich mich an den Leitsatz: Kein Recht kann bestehen ohne die Macht, es zu verteidigen. Aber natürlich müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen.

Nur heisst es auch: Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt … Wie also auf Recht bestehen?

Die Liebe ist wunderschön (lacht), aber lassen wir sie mal auf der Seite. Ja, im Krieg wird Recht verletzt. Und doch müssen wir immer wieder darauf pochen, dass rechtliche Errungenschaften wie die Genfer Konventionen eingehalten werden. Werden diese Regeln gebrochen, haben wir zwei Optionen: Entweder wir geben auf und sterben in Schönheit – oder wir wehren uns. Letzteres haben die Menschen in der Ukraine gewählt. Und das verdient unsere ganze Achtung. Wir in der Schweiz sind wohlstandsverwöhnt, unser aktuell grösstes Problem mag die Reform der Altersvorsorge sein. Aber die Menschen in der Ukraine zeigen es uns: Wer bedroht ist, entwickelt Kräfte, an die er und sie vorher nicht geglaubt hatten.

«Wir in der Schweiz sind wohlstandsverwöhnt. Aber die Menschen in der Ukraine zeigen es uns: Wer bedroht ist, entwickelt Kräfte, an die er und sie vorher nicht geglaubt hatten.»

Was können wir in der Schweiz daraus lernen?

Ohne klare Überzeugungen und innere Entschlossenheit geht es nicht. Andernfalls hätte unsere Gesellschaft nie unser Rechtssystem mit den Freiheiten, die wir heute haben. All das wurde in Jahrhunderten – zum Teil sehr blutig – erkämpft. Was jetzt in der Ukraine passiert, soll uns daran erinnern.

Kommt es hart auf hart, geht es nicht ohne Blutvergiessen?

Unter Umständen. Das ist eine persönliche, aber auch gesellschaftliche Entscheidung.

Den zweiten Teil dieses Interviews gibt es hier zu lesen.