Ukraine bald BeitrittskandidatinZu korrupt für die EU?
Von Gabriela Beck
23.6.2022
Selenskyj: Werde alles für EU-Beitritt der Ukraine tun
Kurz vor einer möglichen Entscheidung über eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union, zeigt sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seinem täglichen Videopodcast optimistisch.
22.06.2022
Kurz vor dem EU-Gipfel scheinen sich die Mitgliedsländer einig zu sein, die Bewerbung der Ukraine anzunehmen. Ist das Land trotz grassierender Korruption und Oligarchen-Wirtschaft bereit für den Beitrittsprozess?
Von Gabriela Beck
23.06.2022, 00:00
23.06.2022, 10:59
Die Ukraine kann auf dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag mit dem «Ja» der 27 Mitgliedsländer zu ihrem Kandidatenstatus rechnen. Ein «vollständiger Konsens» zeichne sich ab, sagte der französische Europaminister Clément Beaune am Dienstag nach dem Vorbereitungstreffen mit seinen EU-Kollegen.
EU-Ratspräsident Charles Michel rief die Staats- und Regierungschefs in seinem Einladungsschreiben für den Gipfel auf, «der Ukraine den Status als Bewerberland zuzuerkennen», wie es die EU-Kommission empfiehlt. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte sich bei seinem Kiew-Besuch vergangene Woche festgelegt.
«Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine», sagte Scholz. Dafür will er sich bei dem Gipfel gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi starkmachen. Skeptiker wie die Niederlande oder Dänemark schlossen sich inzwischen an.
Eines der korruptesten Länder Europas
Aber ist die Ukraine überhaupt bereit für den Kandidatenstatus? Auf dem EU-Gipfel wird ein Gefeilsche um die Abschlusserklärung erwartet. Offen ist etwa, wie deutlich die Reformforderungen an die Ukraine formuliert werden. Das Land hat einen gewaltigen Nachholbedarf.
So landete die Ukraine vor dem Krieg, im Januar 2022, auf der Korruptionsliste von Transparency International weit hinten: auf Platz 122 von 180 Ländern. Damit wird die Ukraine als zweitkorruptestes Land in Europa geführt, nur Russland ist noch schlechter. Die Liste spiegelt das von den Bürgern wahrgenommene Ausmass der Korruption. Eine wesentliche Rolle für deren katastrophale Einschätzung dürfte die grassierende Oligarchen-Wirtschaft spielen.
Oligarchen dominieren den Energiesektor, führen Banken, mischen bei abgesprochenen Grossaufträgen mit Staatsfirmen mit und ebenso im Beschaffungswesen der Armee. Überall dort, wo es um das grosse Geld geht. In den Pandora Papers mit geleakten Daten aus weltweiten Steueroasen finden sich viele Ukrainer, darunter auch Präsident Selenskyj und seine Mitstreiter mit Briefkastenfirmen.
Oligarchen plündern ihre eigene Bank
Eine der grössten Finanzbetrügereien geht auf das Konto der Oligarchen Ihor Kolomojskyj und Hennadij Boholjubow. Sie plünderten die ihnen gehörende «Privatbank» mit manipulierten Krediten und Geldverschiebungen ins Ausland bis kurz vor den Bankrott.
Der ukrainische Finanzminister musste die Bank 2016 verstaatlichen, um die Ersparnisse von 20 Millionen Ukrainern zu retten. Zwar laufen Prozesse gegen die beiden ehemaligen Besitzer in den USA und in Israel, in England und der Schweiz, doch bis heute zeitigte der Banken-Fall keine nennenswerten Folgen.
«Wir haben mehrmals versucht, einen Untersuchungsausschuss durchzusetzen, doch ohne die Stimmen der Präsidenten-Mehrheitsfraktion ‹Diener des Volkes› hatten wir keine Chance», sagt der zur Opposition zählende ukrainische Parlamentarier Wolodymyr Arjew der «Süddeutschen Zeitung».
Pikant: Präsident Selenskyj trat während seiner Zeit als Komiker und Kabarettist häufig in Kolomojskyjs TV-Kanal 1+1 auf. Der damals meistgesehene Fernsehsender der Ukraine unterstützte Selenskyj im Wahlkampf, ein Kolomojskyj-Anwalt arbeitete in Selenskyjs Wahlkampfteam, schreibt die «Süddeutsche Zeitung» weiter.
Desaströses Urteil des Europäische Rechnungshofs
Im September 2021 veröffentlichte der Europäische Rechnungshof einen Sonderbericht mit einem vernichtendem Urteil: Über 20 Jahre habe die EU die Ukraine unterstützt, mit 15 Milliarden Euro allein seit 2014, damit politische Reformen umgesetzt werden können.
Aber der Einfluss von Oligarchen und korrupten Staatsbeamten sei nicht zurückgegangen. Die EU-Kommission sei bei ihrer Bewertung oft zu grosszügig gewesen, was zu übertrieben positiven Einschätzungen geführt habe, stellte der Rechnungshof weiter fest.
«Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes», so Juhan Parts, das für den Bericht zuständige Mitglied des Europäischen Rechnungshofs.
In kleinen Schritten voran
Obwohl Präsident Selenskyj und seine Regierung gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF) wiederholt ein Durchgreifen versichern, ist bisher nicht viel passiert. Zwar wurden zwei Antikorruptionsbehörden – die Korruptionspräventionsagentur und das Nationale Antikorruptionsbüro – eingerichtet.
Doch die Gründung von Behörden ist eine Sache, deren Funktionieren eine andere. Immerhin arbeitet die Regierung unter Selenskyj mit der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zusammen, um die Korruption einzudämmen.
Am Montag verabschiedete das ukrainische Parlament mit dem Gesetz «Über Grundlagen der Antikorruptionspolitik 2021–2025» eine Antikorruptionsstrategie. Dies berichtet Ukrinform unter Berufung auf den Telegram-Kanal des Parlamentsabgeordneten Jaroslaw Shelesnjak.
«Ob die Ukraine jemals beitritt, weiss niemand»
Und seit 2020 können die Ukrainer elektronische Dokumente mittels App auf dem Smartphone nutzen. Sie können nun per Telefon zum Beispiel ihre Steuern zahlen, ein Führungszeugnis beantragen oder eine Baugenehmigung. Damit soll der Alltagskorruption – etwa auf Behörden zur Beschleunigung des Dienstwegs – der Boden entzogen werden.
In Friedenszeiten hätte die Ukraine wohl keine Chance auf eine Mitgliedschaft in der EU. Funktionierender Rechtsstaat mit Minderheitenschutz, transparente Marktwirtschaft – auch Länder, die erst einmal Beitrittskandidat werden wollen, müssen dafür schon die Grundlagen liefern. Davon ist die Ukraine weit entfernt.
Im Klartext: Die Ukraine hat ein gewaltiges Programm zu stemmen, bevor die EU über die Aufnahme der eigentlichen Beitrittsverhandlungen entscheiden kann. Ob Rechtsstaatlichkeit, Demokratie oder Kampf gegen die Korruption – die Hürden sind hoch, der Prozess dürfte Jahre dauern. «Ob die Ukraine jemals beitritt, weiss niemand», sagt ein erfahrener EU-Diplomat.