Ukrainischer Botschafter in Bern «Es wäre hilfreich, wenn die Schweiz ihre Gesetze überarbeiten könnte»

Von Gil Bieler

18.6.2022

Artem Rybchenko, ukrainischer Botschafter in der Schweiz. 
Artem Rybchenko, ukrainischer Botschafter in der Schweiz. 
Bild: Keystone

Die Ukraine soll EU-Kandidatin werden. «Das lässt uns hoffen», sagt der ukrainische Botschafter in Bern, Artem Rybchenko. Der Schweiz ist er dankbar für die Austragung der Lugano-Konferenz, fordert aber schärfere Bankengesetze. 

Von Gil Bieler

Herr Rybchenko, zu Beginn des Krieges sagten Sie in einem Interview, Sie seien Tag und Nacht in der Botschaft gewesen. Ist das immer noch der Fall?

Es gibt nach wie vor viel zu tun, aber aus anderen Gründen. Die Situation in der Ukraine ist immer noch sehr heikel, der Krieg geht weiter, ausserdem bereiten wir gemeinsam mit der Schweiz die Wiederaufbaukonferenz der Ukraine vor, die am 4. und 5 Juli in Lugano stattfinden wird. All das ist viel Arbeit, aber der Unterschied ist, dass wir nun die Abläufe und Herausforderungen besser kennen.

Die EU-Kommission hat sich am Freitag dafür ausgesprochen, die Ukraine zur EU-Beitrittskandidatin zu ernennen. Was bedeutet dieser Schritt für Ihr Land?

Zur Person

Artem Rybchenko amtet seit 2018 als ukrainischer Botschafter in der Schweiz. Der 38-Jährige wurde in Kiew geboren und hat unter anderem Internationale Beziehungen und Rechtswissenschaft studiert. Der zweifache Familienvater spricht Ukrainisch, Englisch und Deutsch, das Interview wurde auf Englisch geführt.

Ich warte erst den 23. und 24. Juni ab, wenn die entscheidenden Beratungen innerhalb der EU stattfinden. Aber natürlich ist das für uns ein sehr wichtiger Schritt, ein Signal, dass wir in der EU Partner haben und Unterstützung geniessen. Wir kämpfen dafür, ein Teil der europäischen Familie zu sein. Wir stehen für Demokratie ein, für internationales Recht, ja für europäische Werte. Gleichzeitig verteidigen wir europäische Wirtschaftsinteressen in der Ukraine. Und wir haben schon vor Jahren Reformprozess eingeleitet, um EU-kompatibel zu werden. Dass die EU-Kommission sich für die Ukraine ausspricht, lässt uns hoffen.

Brüssel fordert von der Ukraine weitere Reformbedingungen, etwa bei der Korruptionsbekämpfung. Hat Ihr Land wegen des Krieges überhaupt noch die Kraft, um grosse Reformen umzusetzen?

Es stimmt, der Kampf gegen die Korruption ist einer der grossen Reformprozesse, die wir angestossen haben. Wir sind in diesem Bereich bereits einen weiten Weg gegangen und haben neue Institutionen geschaffen. Wir haben beispielsweise einen Antikorruptions-Staatsanwalt, ein Antikorruptions-Büro eingesetzt und eine Antikorruptions-Einheit geschaffen. All dies geschah mit dem Ziel, möglichst transparent und möglichst effizient zu handeln.

Was könnte die Ukraine der EU bieten, wenn sei aufgenommen würde?

Wir sind ein Land, das heute für die demokratischen Grundrechte kämpft. Wir kämpfen nicht nur für uns, sondern für Europa. Ausserdem gibt es viele Geschäftsmöglichkeiten in der Ukraine, zum Beispiel im Agrarsektor, in der IT oder bei alternativen Energien, bei denen wir uns als guter Partner anbieten. Wegen der aktuellen Situation muss natürlich auch ein ganzes Land neu aufgebaut werden. Präsident Selenskyj spricht davon, dass die Ukraine als neues, modernes, und europäisches Land wiederauferstehen soll.

Hat sich eine Nato-Kandidatur für Ihr Land nun definitiv erledigt?

Wir nehmen es Schritt für Schritt. Ich sehe und verstehe die Realitäten, wir würden mit unseren europäischen Partnern gerne auf allen Ebenen enger zusammenarbeiten.

Was erhoffen Sie sich von der Lugano-Konferenz?

Zunächst ist es eine Möglichkeit, unsere internationalen Partner über die aktuelle Situation in der Ukraine zu informieren. Gleichzeitig können wir gemeinsam darüber sprechen, wie es weitergehen soll, wie sich die Ukraine erholen soll. Es geht nicht nur um Wohnhäuser und Strassen, sondern auch um die Spitäler, das Schulwesen, die Landwirtschaft, den Energiesektor, die Wirtschaft – ein breites Feld an Themen. All das möchten wir mit anderen Ländern diskutieren, um von ihrem Wissen und ihren Erfahrungen zu profitieren. Manche Regionen in der Ukraine müssen wir von Grund auf wiederaufbauen. Und natürlich möchten wir an dieser Konferenz auch verschiedene Initiativen von Präsident Selenskyj vorstellen.

«Dass die EU-Kommission sich für die Ukraine ausspricht, lässt uns hoffen»

Welche wären das?

Zum einen wäre da die Plattform United24. Heute sammeln viele unterschiedliche Stiftungen Geld für den Wiederaufbau, auch in der Schweiz – am Ende wissen wir aber leider nicht, wo das Geld hinfliesst und wofür es verwendet wird. United24 ist als transparente Dachplattform für solche Spenden gedacht, und sicherzustellen, dass das Geld dorthin fliesst, wo es am dringendsten gebraucht wird. Andere Länder könnten United24 ebenfalls nutzen, sollten sie – was ich nicht hoffe – einmal in eine ähnliche Situation geraten wie die Ukraine. Das ist Projekt Nummer 1.

Und Nummer 2?

Das sind die Twin Projects. Die Idee von Präsident Selenskyj ist es, dass ein Land zum Beispiel die Patenschaft für den Wiederaufbau einer bestimmten Region in der Ukraine übernimmt. Eine Schweizer Stadt könnte analog die Patenschaft für den Aufbau einer ukrainischen Stadt übernehmen, oder Unternehmen aus dem Privatsektor könnten dasselbe für einzelne Infrastrukturprojekte wie Schulen und Krankenhäuser machen. Das wäre eine ganz konkrete Art der Hilfe und des Zusammenarbeitens.

Sie sagen es selber: Es gibt so viel wiederaufzubauen. Wo soll man da beginnen?

Die meisten der Ukrainerinnen und Ukrainer, die ins Ausland fliehen mussten, möchten gerne so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren. Dafür braucht es Unterkünfte, aber auch kritische Infrastruktur wie Strassen, Strom-, Gas- und Wasserleitungen, Tankstellen, Spitäler. Darauf können wir uns in einer ersten Phase konzentrieren, um den Ukrainern die Heimkehr zu ermöglichen. Sie sind nicht vor Armut oder Hunger geflohen, sondern vor dem Krieg. Darum möchten sie auch so schnell wie möglich zurück.

«Natürlich muss die Schweiz auch ihre Sanktionen gegen Russland weiter verschärfen.»

Welchen Beitrag erwarten Sie von der Schweiz?

Solche Plattformen wie die Lugano-Konferenz helfen natürlich schon sehr viel. Es ist eine der ersten grossen Tagungen überhaupt, bei der es einzig um die Ukraine geht. Natürlich muss die Schweiz auch ihre Sanktionen gegen Russland weiter verschärfen, um die Geschäfte mit Russland vollständig einzustellen. Denn diese Steuern landet nicht bei der russischen Bevölkerung, sondern bei der Armee – und töten damit meine Landsleute. In einigen Bereichen des Wiederaufbaus würde uns das Knowhow der Schweiz ebenfalls weiterhelfen, zum Beispiel beim Wegräumen von Minen.

Setzt die Schweiz die Sanktionen engagiert genug um – zum Beispiel das Aufspüren von Konten russischer Oligarchen?

Sagen wir es so: Es wäre sehr hilfreich, wenn die Schweiz ihre Gesetze überarbeiten könnte. Wir wissen, dass viele Konten unter anderen Namen geführt werden – ohne dass klar ist, von wem das Geld ursprünglich stammt. Es bräuchte hier bessere Schweizer Gesetze, um herauszufinden, wer der eigentliche Besitzer dieser Vermögen ist. Das ist wichtig.

Oder nehmen Sie das Beispiel von Kanada: Das Land hat angefangen, das Geld russischer Oligarchen zu blockieren und es der Ukraine zufliessen zu lassen. Das finde ich richtig, denn am Ende des Tages müssen die Ukraine und ihre Partner den Wiederaufbau finanzieren. Vielleicht könnten andere demokratische Länder das ebenfalls umsetzen.

Es gibt Forderungen, dass die Ukraine des Friedens willen Gebiete wie die Krim oder den Donbass aufgeben sollte. Eine denkbare Option?

Dazu muss man sehen: Die Ukraine ist seit 2014 im Krieg, jetzt hat der Krieg bloss eine neue Dimension erreicht. Der Preis, den wir bezahlen mussten, ist bereits heute so hoch, dass es unmöglich ist, jetzt aufzuhören und unser Gebiet abzutreten, unsere Kultur aufzugeben, unsere Nation zu verlieren. Wie könnten wir auch? Die Ukrainer waren noch nie so vereint wie heute, und wir werden stark bleiben – solange wir mehr Waffenlieferungen unserer ausländischen Partner erhalten.