Fragen und Antworten Schickt Joe Biden die Kavallerie, wenn es in der Ukraine knallt?

Von Philipp Dahm

7.12.2021

Militärparaden in der Ukraine zum 30. Jahrestag der Armee-Gründung

Militärparaden in der Ukraine zum 30. Jahrestag der Armee-Gründung

In der ukrainischen Hauptstadt Kiew hat es grosse Militärparaden zum 30. Jahrestag der Gründung der Armee gegeben. Die Feiern finden inmitten der verschärften Spannungen mit Russland statt.

07.12.2021

Die Lage an der ukrainisch-russischen Grenze spitzt sich immer weiter zu. Joe Biden und Wladimir Putin telefonieren deswegen seit 16 Uhr miteinander. Worüber werden sie reden – und worüber nicht?

Von Philipp Dahm

7.12.2021

Wladimir Putins Sprecher nimmt vor dem heutigen Gespräch zwischen dem russischen und dem US-Präsidenten kein Blatt vor den Mund. «Sie werden darüber diskutieren müssen, wie die Übereinkünfte, die sie [im Juni] in Genf erreicht haben, durchgesetzt werden. Sie werden anschauen müssen, was bereits voll umgesetzt worden ist und woran verstärkt gearbeitet werden muss.»

Weltpolitik in Genf: Joe Biden und Wladimir Putin (rechts) während ihres letzten persönlichen Treffens im Juni in der Schweiz.
Weltpolitik in Genf: Joe Biden und Wladimir Putin (rechts) während ihres letzten persönlichen Treffens im Juni in der Schweiz.
KEYSTONE

Dann wird Dmitri Peskow ganz deutlich: «Natürlich geht es um die bilateralen Beziehungen, die weiterhin ziemlich beklagenswert sind. Und dann sind da noch die Fragen, die alles überschatten. In erster Linie die Spannungen wegen der Ukraine, der Punkt, dass sich die Nato unserer Grenze annähert und Präsident Putins Sicherheitsgarantien-Initiative.»

Tatsächlich sind russische Truppen an der Grenze zur Ukraine ein alter Hut: Sie wurden bereits im Frühling für ein Manöver zusammengezogen. Und schon seit November warnen die USA und ihre Verbündeten, der Konflikt zwischen Kiew und Moskau brodle und könne bald überkochen.

Die erste Frage, die sich also stellt, ist:

Warum telefonieren sie ausgerechnet jetzt?

Zum einen hat das Pentagon erstmals offiziell die Zahlen bestätigt, die bis dato nur von der Ukraine und anonymen Quellen genannt worden sind. Der Stabschef der US Army weiss von «irgendwo zwischen 95'000 und 100'000 russischen Soldaten» im Krisengebiet.

Ein Satellitenbild des privaten Anbieters Maxar Technologies vom 5. Dezember 2021, das ein russisches Trainingslager nahe Woronesch zeigen soll.
Ein Satellitenbild des privaten Anbieters Maxar Technologies vom 5. Dezember 2021, das ein russisches Trainingslager nahe Woronesch zeigen soll.
KEYSTONE

«Ich weiss nicht, was sie tun werden», erklärt General James McConville am Reagan National Defense Forum. «Aber ich bin sehr, sehr besorgt wegen dieser Stellung.» In einem sei er sich sicher: «Es wird schreckliche Auswirkungen auf die Stabilität und Sicherheit unserer europäischen Freunde haben, und deshalb mache ich mir ernsthaft Sorgen.»

Warum so besorgt? Eine anonyme Quelle aus dem Haus führt bei CNBC aus: «Diese Truppenbewegungen stimmen mit den Planungen für eine militärische Eskalation in der Ukraine überein, die gerade umgesetzt werden. Wir kennen dieses russische Drehbuch aus dem Jahr 2014, als Russland in die Ukraine einmarschiert ist.»

Was ist der Hintergrund dieser Sorgen? 

Es passt ins Bild, dass Kiew den Versuch eines Putsches aufgedeckt haben will, an dem Russen und Ukrainer beteiligt gewesen sein sollen. Und die «Washington Post» will zudem von einem Geheimdienstbericht erfahren haben, das noch mehr Details zu der angeblich geplanten Invasion verrät.

«Der Plan sieht extensive Truppenbewegungen von 100 taktischen Bataillonen mit schätzungsweise 175'000 Männern mit Panzern, Artillerie und Ausrüstung vor», heisst es da. Die «militärische Offensive gegen die Ukraine» könne schon Anfang 2022 beginnen und soll mit einer Truppenstärke durchgeführt werden, die «doppelt so gross wie beim russischen Frühlingsmanöver nahe der Grenze» sei.

Auch Langstrecken-Raketenartillerie und diverse Luftabwehrbatterien sollen mittlerweile im Grenzgebiet Stellung bezogen haben. Ins Auge falle dabei, dass nun auch medizinische und Nachschubeinheiten die Region erreichen, ergänzt «The Drive».

Welche Position bezieht Russland?

Moskau fordert eine Garantie, dass die Ukraine niemals Mitglied der Nato wird. Das meint Putins Sprecher, wenn er von der «Initiative für Sicherheitsgarantien» seines Präsidenten spricht. In diesem Punkt ist Russland ein gebranntes Kind.

Denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich das westliche Militärbündnis prompt bis Polen und ins Baltikum ausgebreitet: In Estland, Lettland und Litauen hat das Land die Nato praktisch vor der Nase. Ausserdem redet sich Wladimir Putin damit heraus, dass die Ukraine es sei, die Truppen an der Grenze zusammenziehe.

120'000 Soldaten stünden auf der Gegenseite bereit, um die abtrünnigen Regionen Donezk und Luhansk zurückzuerobern, erklärt der Kreml. Wenn sich aus so einer Konstellation kein casus belli zaubern lässt, könnte der Verbündete Weissrussland einspringen: Minsk hat gerade den ukrainischen Botschafter einbestellt, um gegen Grenzverletzungen durch einen Helikopter zu protestieren.

Dieses Maxar-Bild zeigt angeblich schweres russisches Gerät auf der Krim am 5. Dezember 2021.
Dieses Maxar-Bild zeigt angeblich schweres russisches Gerät auf der Krim am 5. Dezember 2021.
KEYSTONE

Und worüber spricht Russland nicht?

Die Nato will sich selbstredend von Russland nicht vorschreiben lassen, wen sie wie unterstützt. Und wegen einer Aufnahme der Ukraine in die Nato hat Joe Biden bereits abgewunken: Das Land müsse erst mal seine Probleme mit Korruption in den Griff bekommen. Hintergrund ist ein anhaltender Kampf des dortigen Präsidenten gegen eine technokratische Clique in der Ukraine, die mächtig abkassiert.

Der Kreml spricht auch nicht darüber, dass die äusseren Bedingungen für eine Invasion günstig sind, seit sich die USA verstärkt auf den Pazifik und China konzentrieren. Um Weihnachten und Jahreswechsel wäre der Westen zudem einigermassen abgelenkt – das hat auch 1979 gut funktioniert, als die Sowjetunion am Heiligen Abend in Afghanistan einmarschiert ist.

Frohes Fest, lieber Westen: Afghanische Mudschahedin haben drei Tage nach dem Einmarsch der Sowjets am 27. Dezember 1979 einen Schützenpanzer erbeutet.
Frohes Fest, lieber Westen: Afghanische Mudschahedin haben drei Tage nach dem Einmarsch der Sowjets am 27. Dezember 1979 einen Schützenpanzer erbeutet.
KEYSTONE

Und nicht zuletzt wäre eine weitere Westanbindung der Ukraine für Moskau ein strategischer Albtraum. Würden dort weitreichende Raketenstellungen bezogen, würde der lange Arm der Nato weit ins eigene Territorium reichen. 

Zudem nervt den Kreml, dass Nato-Schiffe immer wieder ins Schwarze Meer fahren und somit die Lebensader von der Krim ins Mittelmeer und zum russischen Stützpunkt Latakia in Syrien bedrohen. Es könnte in Russlands Interesse sein, bald zuzuschlagen, bevor die USA Kiew weiter aufrüsten.

Karte der Ukraine: Wäre die Nato hier, würde sich deren Grenze weit in den Osten und näher an Moskau heran verschieben.
Karte der Ukraine: Wäre die Nato hier, würde sich deren Grenze weit in den Osten und näher an Moskau heran verschieben.
Google Earth

Was können die USA tun?

Das Wichtigste zuerst: Ein direktes militärisches Eingreifen der Nato ist ziemlich ausgeschlossen. Die USA und ihre europäischen Verbündeten haben sich nach eigenen Aussagen bereits auf schärfere Sanktionen verständigt, falls es eine Invasion gäbe. Bisher hat die Aussicht auf wirtschaftliche Hürden Putin jedoch nicht von Vorhaben abgehalten.

Was wohl schwerer wiegt, ist Joe Bidens Androhung, im Fall der Fälle neue US-Truppen nach Europa zu verlegen. Somit wäre auch der Kreml gezwungen, seine aktuelle Truppe an der westlichen Grenze zu einer regulären Präsenz auszubauen. Das würde einen Krieg gegen Kiew deutlich teurer machen, als er so ohnehin bereits wäre. 

US-Kampfhelikopter vom Typ AH-64 Apache am 25. Oktober 2021 beim Manöver «Victory Eagle» nahe Drawsko in Polen.
US-Kampfhelikopter vom Typ AH-64 Apache am 25. Oktober 2021 beim Manöver «Victory Eagle» nahe Drawsko in Polen.
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Last but not least wird der Westen die Ukraine weiter aufrüsten. Schon jetzt hat dessen Militär ganz andere Möglichkeiten, seit es mit Panzerabwehrraketen vom Typ Javelin ausgerüstet worden ist. Warum? 2014 hatte Kiew keine Raketen im Arsenal, die die Panzerung russischer Einheiten hätte durchbrechen können. Sollte die Ukraine auch noch wie geplant mit mobilen Flugabwehrraketen bestückt werden, würde eine Invasion endgültig schmerzhaft für Moskau werden.