Aufmarsch an der GrenzeUkraine erwartet russischen Angriff, Moskauer Börse ebenfalls
Von Philipp Dahm
23.11.2021
Immer wieder warnt die Ukraine vor den russischen Truppen an ihrer Grenze. Nun erwägt Washington nicht nur neue Sanktionen, sondern auch die Lieferung von Flugabwehrraketen – und russischen Helikoptern.
Von Philipp Dahm
23.11.2021, 15:56
Philipp Dahm
Es ist ein bisschen wie mit der Fabel von dem Hirtenjungen und dem Wolf: Wer immer wieder Alarm schlägt, wird mit der Zeit nicht glaubwürdiger, wenn nichts passiert. So ist es anscheinend auch mit der Ukraine nebst ihren Verbündeten, die Mal um Mal davor warnen, dass Russland an der Grenze etwas im Schilde führt.
Tatsächlich hatte Russland im Frühjahr jede Menge Truppen für ein Manöver im Westen des Landes zusammengezogen. Das Problem: Das Gros ist nach der Übung nicht wieder abgerückt. Das macht die Regierung in Kiew nervös, die sich in der Sache wiederum an Washington gewendet hat. Die USA haben ihrerseits die europäischen Verbündeten von der Lage unterrichtet.
Am Wochenende hat die Ukraine nachgelegt – und wird konkret: Der Kreml plant einen Angriff auf ihr Territorium, der Ende Januar oder Anfang Februar beginnen soll. Das behauptet der Chef des militärischen Nachrichtendienstes in einem Interview mit der «Military Times». Brigadegeneral Kyrylo Budanow warnt darin vor einer Invasion über Odessa, Mariupol und über Belarus.
«Das ist für uns und die Russen kein Problem»
Budanow rechnet mit einer gross angelegten Offensive über Land wie auch über See, die mit Luft- und Artillerieunterstützung vonstattengehen könnte. In seinem Ausmass wäre so eine Invasion verheerender als die von 2014, bei der die Ukraine die Halbinsel Krim und 14'000 Soldaten verloren hatte.
Der Angriff sei zwar nicht unbedingt beschlossene Sache, werde aber weiter vorbereitet, schätzt zumindest Budanow. Dass der Winter jemanden von kriegerischen Auseinandersetzungen abhalte, glaubt er dagegen nicht: «Das ist für uns und die Russen kein Problem.»
Eingeleitet würde so ein Angriff durch psychologische Kriegsführung, die der Destabilisierung diene. Dazu gehörten etwa die Aufwiegelung von Impfgegnern, Kommandoaktionen innerhalb der Ukraine und die Torpedierung der Wirtschaft und des Energiesektors.
Washington erwägt weitere Waffenlieferungen
Es ist also kaum verwunderlich, dass die Ukraine aufrüstet – mit Hilfe der USA. Seit 2014 hat Washington 2,5 Milliarden Dollar in die Sicherheit des Landes investiert, wovon über 400 Millionen in diesem Jahr geflossen sind, berichtet «Defense Daily». Mit dem Geld sind Panzerabwehrraketen vom Tp Javelin, Patrouillenboote, Drohnen, Radargeräte und anderes Material beschafft worden.
Doch das Weisse Haus überlegt nun, die Militärhilfen angesichts der russischen Truppen an der Grenze noch weiter aufzustocken, berichtet CNN. Im Gespräch seien weitere panzerbrechende Raketen, aber auch tragbare Flugabwehrraketen von Typ Stinger und Mi-17-Helikopter, die eigentlich aus russischer Produktion stammen.
Das Pentagon hat jene Mi-17-Maschinen ursprünglich für Afghanistan beschafft, doch mit der Machtübernahme der Taliban ist eine Übergabe nun ausgeschlossen. Gerade die Lieferung von Stinger-Raketen und Helikoptern wird jedoch auch als heikel angesehen: Sie könnte «die Spannungen weiter erhöhen», erklärt der Ex-Militär Cedric Leighton.
Russische Märkte schmieren ab
Das Team von US-Präsident Joe Biden berät an der diplomatischen Front mit den Europäern ausserdem über weitere Sanktionen. US-Politiker beider Parteien würden solche Massnahmen stützen, weiss CNN. Der Kreml warf Washington hingegen gestern vor, «falsche Informationen» zu verbreiten.
Bleibt die Frage, ob der Westen nun falschen Alarm schlägt oder ob Russland im übertragenen Sinne tatsächlich der Wolf ist. In solchen Situationen ist die Wirtschaft oft ein gutes Indiz dafür, wer richtig liegt. Und die Märkte fürchten einen bewaffneten Konflikt, wie gestern in Moskau deutlich geworden ist.
Der russische Aktienindex RTS verliert am Montag 4 Prozent. Besonders hart trifft es dabei Banken und die staatliche Gazprom, die neue Sanktionen am härtesten treffen würden. Der Rubel büsst gegenüber dem Dollar 1,1 Prozent ein und verliert auch gegenüber dem Euro. Den Einbussen sind drei Monate stabilen Wachstums vorausgegangen, berichtet die «Moscow Times».