Mehr als ein Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie durften WHO-Wissenschaftler endlich nach Wuhan. Doch Peking hat kein Interesse, die Ursprünge des Virus aufzuklären – und strickt stattdessen an Verschwörungstheorien.
Man kennt das aus unzähligen Fernsehkrimis: Wer nichts zu verbergen hat, erklären einem die Damen und Herren von der Kriminalpolizei regelmässig am Sonntagabend, der solle doch bitteschön mit den Ermittlungsbehörden kooperieren. So gesehen macht sich die chinesische Regierung derzeit höchst verdächtig: Seit Monaten schon blockiert Peking die Untersuchungen zum Ursprung des Coronavirus und versucht stattdessen – auch das kennt man von diversen TV-Ganoven – den Verdacht auf andere zu lenken. Frei nach dem Motto: Die anderen haben angefangen!
Das neueste Kapitel in diesem unwürdigen Spektakel begann am heutigen Donnerstag. Da kamen Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Wuhan an, jener Stadt, aus der vor etwas mehr als einem Jahr erstmals Meldungen über eine neue, durch ein Virus ausgelöste Lungenerkrankung die Öffentlichkeit erreichten. Doch mit ihrer Aufklärungsarbeit können die zehn WHO-Experten aus Australien, Deutschland, Grossbritannien, den Niederlanden, Japan, Katar, Russland, den USA und Vietnam mitnichten beginnen: China hat sie umgehend in eine 14-tägige Quarantäne geschickt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Denn der Verdacht liegt nahe, dass es Peking auch mit diesem Schritt nicht etwa darum geht, eine Einschleppung des Virus durch die WHO-Wissenschaftler nach Wuhan zu unterbinden – in der Stadt gab es seit Längerem keine neuen Fälle mehr, die letzten grossen Ausbrüche konzentrierten sich auf andere Regionen in China, etwa auf den Grossraum Peking. Vielmehr darf man vermuten, Peking wolle mit der Quarantäne weiter Zeit schinden. Denn nichts anderes tut die chinesische Regierung seit Monaten.
Maulkorb für chinesische Wissenschaftler
Seit Ende Dezember 2019 sind fast als zwei Millionen Menschen in Verbindung mit dem Coronavirus gestorben, die Johns-Hopkins-Universität zählt Stand Donnerstagvormittag insgesamt über 92 Millionen Infektionen. Wissenschaftler vermuten, dass das Virus im Südwesten Chinas über einen Zwischenwirt von Fledermäusen auf den Menschen überging. Der erste grosse Ausbruch führte auf einem Markt in Wuhan und später in der gesamten Stadt zu unzähligen Infektionen, die sich schliesslich über die ganze Welt verbreiteten.
Trotz dieser Fakten aber hat China fast ein Jahr lang eine unabhängige Untersuchung des Virus-Ursprungs verhindert. Erst massiver internationaler Druck hat nun zur Einreise der WHO-Experten geführt. Ob die Wissenschaftler in Wuhan allerdings fündig werden, ist mehr als fraglich. Mögliche Beweise wurden längst vernichtet, und noch ist unklar, wie frei sich die WHO-Mitarbeiter vor Ort bewegen dürfen. Genaueres weiss man in frühestens zwei Wochen.
Unterdessen berichtet die US-Nachrichtenagentur AP, dass Peking chinesischen Wissenschaftlern einen doppelten Maulkorb verpasst habe: Forscher dürften nicht mit ausländischen Journalisten sprechen; ausserdem seien wissenschaftliche Untersuchungen zum Ausbruch des Coronavirus auf Geheiss der Regierung hin eingeschränkt worden.
«Ein Kaugummi an der Schuhsohle Chinas»
Die Weltgemeinschaft lässt der Kommunistischen Partei all das weitgehend durchgehen – vom gelegentlichen Gepolter aus dem Weissen Haus einmal abgesehen. Vielleicht ja, weil man genau beobachtet hat, was mit Ländern passiert, die sich mit ihrer Kritik am chinesischen Verhalten in der Coronakrise weit nach vorn gewagt haben. So wie etwa Australien.
Schon vor Monaten hatte die Regierung in Canberra lautstark nach einer internationalen Untersuchung der Ereignisse in Wuhan gerufen. Die Reaktion aus Peking liess nicht lange auf sich warten – fiel allerdings anders aus, als es sich die australische Regierung erhofft hatte. Statt Aufklärung hagelte es Beleidigungen.
So schrieb etwa Hu Xijin, Chefredakteuer der staatlich kontrollierten englischsprachigen «Global Times», im April, Australien sei «wie ein Kaugummi an der Schuhsohle Chinas», den man mit einem Stein abkratzen müsse. Es folgten Massnahmen, die auf die australische Exportwirtschaft zielten – so liess Peking etwa den Import von Getreide aus Down Under einschränken. Und all das, obwohl China und Australien seit Jahren ein eigentlich sehr gutes Verhältnis zueinander pflegen.
Verschwörungstheorien von ganz oben
Die Kommunistische Partei begnügte sich derweil nicht damit, internationale Untersuchungen zu torpedieren. Fleissig stricken die Verschwörungstheoretiker rund um Staats- und Parteichef Xi Jinping seit Monaten an der Legende, das Virus habe seinen Ursprung gar nicht in China. So verbreiten chinesische Medien die Behauptung, SARS-CoV2 entstamme einem US-Labor und sei während der Sommer-Militärweltspiele, die im Oktober 2019 in Wuhan ausgetragen wurden, durch amerikanische Athleten eingeschleppt worden. Dass Wissenschaftler weltweit diese Behauptung zurückweisen, hindert China nicht daran, sie weiterzuverbreiten.
Das Schaffen von «alternativen Fakten» gehört seit Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 zur DNA der Kommunistischen Partei. Die brutale Besetzung Tibets – in Wirklichkeit eine friedliche Befreiung. Das demokratisch regierte Taiwan – eine abtrünnige Provinz Chinas. Die Demokratiebewegung in Hongkong – staatszersetzende Terroristen. Die Konzentrationslager in Xinjiang – in Wahrheit ein freiwilliges Ausbildungsprogramm.
Auch wenn viele Chinesen diese Lügen, mit denen sie von der staatlich gelenkten Presse tagtäglich überschüttet werden, selbst glauben – die gute Nachricht ist: Im Westen ist China weit davon entfernt, mit seinen Lügenmärchen zu verfangen. Daran dürfte auch Pekings aggressives Verhalten bei der Aufklärung der Corona-Pandemie nichts ändern – egal, ob die WHO-Ermittler in Wuhan fündig werden oder nicht.
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