Chinas grosse Pläne mit den KleinenXi denkt an die Kinder, die Kinder müssen aber auch an ihn denken
Von Sven Hauberg
3.9.2021
Mit umfangreichen Reformen will Xi Jinping die Armut in China bekämpfen. Doch der Staats- und Parteichef verfolgt auch persönliche Ziele: Er will das Land auf Lebenszeit regieren. Dazu braucht er Erfolge.
Von Sven Hauberg
03.09.2021, 14:50
03.09.2021, 15:19
Sven Hauberg
Für Millionen junger Chinesen endete die Schule jahrelang nicht am Freitag, sondern ging am Wochenende erst so richtig los. Dann wurde nicht nur wiederholt, was man in den Tagen zuvor gelernt hatte; Tausende Privatschulen im ganzen Land öffneten auch Samstag und Sonntag ihre Türen, um Nachhilfe in Englisch, Mathematik oder anderen Fächern zu geben. «Wenn ich meine Schüler gefragt habe, was sie am Wochenende gemacht haben, habe ich fast immer in fragende Gesichter geblickt», erzählt ein ehemaliger Englischlehrer an einer Privatschule im ostchinesischen Hangzhou. «Weil allen klar war, was sie gemacht haben: gelernt. Und nichts anderes.»
In einem Land, in dem die meisten Kinder keine Geschwister haben, liegt die Hoffnung der Eltern auf der einzigen Tochter oder dem einzigen Sohn. Ausbaden müssen das oftmals schon die Jüngsten, die unter dem immensen Druck leiden, der ihnen auferlegt wird.
Doch das soll sich nun ändern. Ende Juli verbot die Regierung privaten Nachhilfeschulen, auch am Wochenende zu unterrichten. Angebote für Kinder unter sechs Jahren müssen gar komplett eingestellt werden. Ebenso wurde verfügt, dass Schülerinnen und Schüler künftig weniger Hausaufgaben machen sollen und stattdessen mehr Sport. Am Dienstag, einen Tag vor Ende der Sommerferien, verkündete das Pekinger Bildungsministerium dann auch noch, dass Erst- und Zweitklässler keine Tests mehr schreiben müssen.
Die Armen blicken in die Röhre
Mit den neuen Massnahmen sollen nicht nur die Schülerinnen und Schüler geschont werden; sie sollen auch helfen, die Unterschiede zwischen Arm und Reich, die in China noch immer eklatant sind, ein Stück weit auszugleichen. Denn die teuren Bildungsangebote können sich nur wohlhabende Chinesen für ihre Kinder leisten; die 600 Millionen Menschen im Land, die von umgerechnet weniger als 140 Franken im Monat leben müssen, blicken in die Röhre.
Der Angriff auf den privaten Bildungssektor ist nur einer von vielen Schritten, mit denen Staats- und Parteichef Xi Jinping derzeit versucht, China umzukrempeln. Sein erklärtes Ziel: Die Ungleichheit im Land soll bekämpft werden, der Wohlstand des Landes sich auf alle Bevölkerungsschichten verteilen. «Wir müssen übermässig hohe Einkommen vernünftig anpassen und einkommensstarke Gruppen und Unternehmen ermutigen, mehr zur Gesellschaft beizutragen», sagte Xi Mitte August laut staatlicher Nachrichtenagentur Xinhua.
Die Marschroute, die Xi vorgegeben hat, kommt einem Paradigmenwechsel gleich. «Reich werden ist ruhmreich», hatte Deng Xiaoping, der Architekt der chinesischen Öffnungspolitik der 80er-Jahre, einst gesagt. Wenn einige Teile der Bevölkerung zu Geld kämen, so Dengs Kalkül, würde auch der Rest des Landes profitieren. Auch Xi hing diesem Dogma lange an, setzt nun aber offenbar darauf, nachzuhelfen: Um Hunderten Millionen Chinesen mehr Wohlstand zu bringen, soll der Staat wieder stärker in die Wirtschaft eingreifen.
Das Regime zieht die Daumenschrauben
«Die Förderung des gemeinsamen Wohlstands ist ein langfristiges Ideal und Ziel Chinas als sozialistisches Land», heisst es in einem Kommentar der regierungstreuen «Global Times». Wenn man den Wohlstandskuchen grösser mache, müsse man ihn auch gerecht teilen, so das Blatt.
Um dieses Ziel zu erreichen, plant die Regierung unter anderem die Einführung einer Erbschaftssteuer sowie eine Steuer auf Gewinne am Aktienmarkt. Das könnte helfen, Geld von oben nach unten zu verteilen, so der Plan. Um Menschen aus unteren Einkommensgruppen zu entlasten, soll ausserdem eine Mietpreisbremse eingeführt werden. So soll vor allem in den grossen Städten erschwinglicheren Wohnraum für junge Leute geschaffen werden. Auch der Sozialstaat soll ausgebaut werden.
Gleichzeitig zieht die Partei bei vielen privaten Unternehmen und den rund eintausend Milliardären im Land die Daumenschrauben an. Prominentestes Opfer war im vergangenen Jahr Jack Ma und sein Unternehmen Alibaba. Nachdem Ma öffentlich Kritik geübt hatte am chinesischen Finanzsystem, verschwand der Milliardär für mehrere Wochen; ausserdem wurde der Börsengang der Alibaba-Finanztochter Ant Group gestoppt, später verhängten Chinas Wettbewerbshüter eine Milliardenstrafe gegen Alibaba. Auch der Tech-Konzern Didi, eine Art chinesisches Uber, geriet ins Visier der Behörden. Nun wurden ebendiese Milliardenunternehmen dazu aufgerufen, sich mit Spenden am Gemeinwesen zu beteiligen – einem Appell, dem die ersten Firmen bereits nachgekommen sind. Ob freiwillig oder nicht, sei einmal dahingestellt.
Neuer Lehrstoff an Chinas Schulen
Die chinesische Propaganda verkauft ihre neue Politik unter dem Schlagwort des «gemeinsamen Wohlstands». Gut möglich aber, dass Xi Jinping noch anderes im Sinn hat als eine gerechtere Gesellschaft: Im kommenden Oktober, auf dem 20. Parteitag der chinesischen Kommunisten, will sich der 68-Jährige im Amt bestätigen lassen. Es wäre seine dritte Amtszeit – und ein Novum: Seit dem Tod Maos war kein Staatsführer derart lange Staatschef. Xi wäre dann ein Herrscher auf Lebenszeit. Die Kampagne für mehr Wohlstand für alle könnte so etwas wie eine Bewerbung um eine dritte Amtszeit sein.
Chinas knapp 300 Millionen Schülerinnen und Schüler sollen unterdessen zwar künftig weniger Hausaufgaben und Nachhilfeunterricht aufgebrummt bekommen; dafür wurde mit Schulbeginn am Mittwoch aber neuer Stoff auf den Lehrplan gesetzt: Unter dem Titel «Xi Jinpings Gedankengut über den Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära» sollen sich bereits die Grundschulen darauf konzentrieren, «die Liebe zum Vaterland, zur Kommunistischen Partei und zum Sozialismus zu kultivieren», so die «Global Times».