Atomare Bedrohung durch Russland«Putin hat eine ultimative Drohkulisse aufgebaut»
Von Oliver Kohlmaier
24.3.2022
US-Militär sieht Hinweise auf ukrainische Offensiven
Am Dienstag hat der Wettersatelliten-Betreiber Eumetsat die Weitergabe von Daten an Russland ausgesetzt. Experten zufolge könnten Wetterdaten eine zentrale Rolle für den Einsatz von biologischen oder chemischen Waffen spielen.
24.03.2022
Putin spielt durch seine Drohgebärden mit der Angst vor einem atomaren Konflikt. Wie ist das nukleare Säbelrasseln einzuordnen? blue News hat Experten um ihre Einschätzung gebeten.
Von Oliver Kohlmaier
24.03.2022, 06:48
24.03.2022, 10:47
Von Oliver Kohlmaier
Mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Putin auch eine rhetorische Eskalationsspirale in Gang gesetzt, an der er immer weiter dreht.
Seit dem Ende des Kalten Krieges war die Angst vor einem atomaren Konflikt nicht mehr so hoch wie derzeit. Putin erinnert die Weltgemeinschaft seit Beginn seiner Invasion wiederholt an das nukleare Potenzial seiner Streitkräfte.
Bereits in seiner TV-Kriegserklärung drohte er Drittstaaten für den Fall einer Einmischung Konsequenzen an, «wie sie sie noch nie in ihrer gesamten Geschichte erlebt haben».
Nach den ersten Sanktionen des Westens eskalierte Putin die Rhetorik noch einmal drastisch. Im russischen Fernsehen wies er seinen Verteidigungsminister und Generalstabschef an, die Abschreckungswaffen — gemeint waren die Atomstreitkräfte — in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen. Scharfmacher fordern in Talkshows ausserdem, die nuklearen Drohungen gegen den Westen weiter zu forcieren.
Was viele in Angst und Schrecken versetzt, sehen Expert*innen zunächst weitaus nüchterner. Denn Putin hatte seine Rhetorik hinsichtlich des russischen Nuklearpotenzials schon lange vor Beginn seiner Invasion in der Ukraine verschärft und die Einschüchterung zur Methode gemacht.
«Putin hat in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass Russland eine Atommacht ist», erklärt der Historiker und Russland-Experte Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen auf Anfrage von blue News. Damit habe der russische Präsident eine «ultimative Drohkulisse» aufgebaut.
Linientreue TV-Moderatoren thematisieren das nukleare Potenzial Russlands Schmid zufolge wiederholt und setzen es für eine gesellschaftliche Mobilisierung ein.
Der Politikwissenschaftler Alexander Bollfrass von der ETH Zürich will den Scharfmachern gleichwohl keine grosse Bedeutung zugestehen. «Die einzige Person, deren Wille zählt, ist Wladimir Putin», sagt Bollfrass auf Anfrage von blue News und erklärt: «Die russischen Fernsehpropagandisten haben keine besseren Informationen als wir über den Geisteszustand ihres Präsidenten.»
Die TV-Moderatoren führten demnach eine Desinformationskampagne gegen das russische Volk und versuchen, «gegenüber den Ukrainern oder dem Westen hart und entschlossen aufzutreten».
Erfolgreiche Drohungen
Laut dem Experten für Sicherheitspolitik gibt es zwei Gründe für die rhetorische Eskalation Putins. Der russische Präsident drohe, in einen «militärischen Sumpf» zu geraten und versuche nun, seine Position zu verbessern, sagt Bollfrass. Eine Möglichkeit dafür wäre etwa «die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen, um die Ukrainer zur Kapitulation zu zwingen.»
Der «wahrscheinlich wichtigere Grund» dafür, dass Putin schon zu Beginn des Krieges Atomwaffen ins Spiel brachte, liege darin, die NATO vom Eingreifen abzuhalten: «Diese Drohung war erfolgreich, wie wir an der Weigerung der NATO sehen können, dem Antrag von Präsident Selenskyj auf eine Flugverbotszone stattzugeben.»
In der Einschüchterung sieht auch Bollfrass' Kollege James Davis das wichtigste Motiv des Präsidenten. «Putin scheint signalisieren zu wollen, dass eine Niederlage für ihn nicht hinnehmbar ist», sagt der Politikwissenschaftler der Universität St. Gallen auf Anfrage von blue News und erklärt: «Dieses Signal ist sowohl an das ukrainische Volk als auch an den Westen gerichtet. Beide will Putin einschüchtern.»
Während Putin sich persönlich auffallend häufig äussert, lässt er ausserdem Funktionäre in westlichen Medien auftreten, um seine Drohgebärden zu bekräftigen.
So wurde Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag in einem CNN-Interview gefragt, ob Putin den Einsatz von Atomwaffen ausschliessen könne. Peskow tat dies nicht, bezog sich auf die russische Militärdoktrin und erklärte, Atombomben würden nur dann eingesetzt, wenn eine «existenzielle Bedrohung» des Landes bestehe.
Diese Aussage lässt eine Menge Spielraum für Interpretationen. «Existenzielle Bedrohung», liege stets im Auge des Betrachters, sagt Bollfrass und fügt hinzu: «Die gruseligste Interpretation ist, dass Russland jede Bedrohung der Stabilität des Putin-Regimes als etwas betrachten könnte, das durch die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen verteidigt werden sollte.»
Davis zufolge würde Putin der Einsatz einer Atomwaffe militärisch nichts bringen, «was er nicht auch mit konventionellen Waffen erreichen könnte». Dennoch sei nicht ausgeschlossen, «dass Putin und seine Handlager eine florierende demokratische Ukraine für das Fortbestehen seines Machtapparates als eine existenzielle Bedrohung betrachten würden».
Angst vor thermobaren Waffen
Während die Angst im Westen vor einem atomaren Konflikt von Moskau geschürt wird, legen die russischen Streitkräfte Grossstädte wie etwa Mariupol in Schutt und Asche.
Dabei soll Putins Armee in der Ukraine nach Angaben der Organisation Human Rights Watch bereits mehrfach die völkerrechtlich geächtete Streumunition eingesetzt haben.
Der russische Präsident verfügt über ein ganzes Arsenal solcher todbringenden Werkzeuge. Im Blickpunkt stehen derzeit die sogenannten thermobaren Waffen, die nach Angaben der ukrainischen Botschafterin in den USA bereits von den russischen Streitkräften eingesetzt wurden. Überprüfen lässt sich dies nicht.
Da der russische Angriff auf die Ukraine nicht nach Plan verläuft, steigt nun die Sorge vor dem Einsatz dieser brutalen Waffen, vor denen die Menschen nicht einmal in Kellern oder Bunkern sicher sind. Entsprechende Systeme für den Abschuss solcher Munition befinden sich bereits in der Ukraine.
Laut Expert*innen ist der Einsatz thermobarer Waffen gegen die Zivilbevölkerung ein Kriegsverbrechen. Dass Putin prinzipiell bereit ist, diese Waffen einzusetzen, hat er schon bewiesen. In Syrien ist «die Missachtung des russischen Militärs gegenüber dem Leben von Zivilisten» auf verheerende Weise deutlich geworden, sagt Bollfrass.
Dem Politikwissenschaftler zufolge scheint es zudem derzeit so, dass die russischen Streitkräfte umso mehr Zivilisten töten und verletzten, «je frustrierter sie auf dem Schlachtfeld sind». Man könne sich daher nicht darauf verlassen, dass sie die «eingesetzten Waffen aus humanitären Gründen einschränken.»
Sorge vor Einsatz taktischer Atomwaffen
Während sich die Drohungen gegen den Westen auf das strategische Kernwaffenpotenzial Russlands beziehen, gab es schon zu Beginn des Krieges die Sorge vor taktischen Nuklearwaffen auf dem Gefechtsfeld.
Denn laut der offiziellen russischen Militärdoktrin können diese Atomwaffen eingesetzt werden, wenn die Streitkräfte konventionell unterlegen sind. Putins Angriff auf die Ukraine läuft trotz gegenteiliger Behauptungen aus Russland zwar nicht nach Plan. Von Unterlegenheit kann dennoch keine Rede sein.
Die russische Militärdoktrin ist Bollfrass zufolge ohnehin «kein zuverlässiger Indikator für das Verhalten der Streitkräfte». Ob solche Waffen zum Einsatz kommen, entscheide nur einer: Wladmir Putin.
Die Gefahr, dass Putin den Einsatz taktischer Kernwaffen in der Ukraine befiehlt, schätzt Bollfrass dennoch als eher gering ein: «Glücklicherweise hat er im Moment weit mehr zu verlieren, als er gewinnen könnte, wenn er den Einsatz von Atomwaffen genehmigt.»
Was der russische Präsident wirklich plant, kann schlussendlich niemand vorhersagen. Mit einer Prognose dürfte Russland-Kenner Ulrich Schmid jedoch in jedem Fall ins Schwarze treffen: «Ein Atomwaffeneinsatz würde sicher von einer Mehrheit der russischen Bevölkerung abgelehnt.»