Fragen und Antworten Wie gefährlich ist die indische Doppel-Mutante tatsächlich? 

uri

18.5.2021

Eine Frau in Grossraum Delhi erhält Mitte Mai vor einem Sikh-Schrein Sauerstoff: Neben Grossereignissen und fehlenden Sicherheitsmassnahmen wird in Indien die Coronavirus-Variante B.1.617 für die vielen Fälle verantwortlich gemacht.  
Eine Frau in Grossraum Delhi erhält Mitte Mai vor einem Sikh-Schrein Sauerstoff: Neben Grossereignissen und fehlenden Sicherheitsmassnahmen wird in Indien die Coronavirus-Variante B.1.617 für die vielen Fälle verantwortlich gemacht.  
Bild: Keystone

Die Weltgesundheitsorganisation WHO bezeichnet die indische Coronavirus-Variante B.1.617 mittlerweile als «besorgniserregend». In Grossbritannien breitet sie sich rasant aus, und auch in der Schweiz ist sie nachgewiesen. Das ist über die Doppelmutante bekannt. 

uri

18.5.2021

Die Menschen in England dürfen sich seit gestern über weitgehende Lockerungen der Corona-Massnahmen freuen: Unter anderem können sich sechs Personen oder zwei Haushalte wieder in geschlossenen Räumen treffen und müssen dabei auch keinen Abstand mehr einhalten. Im Freien sind sogar Treffen mit bis zu 30 Personen erlaubt. Auch liegen Küsschen und Umarmungen zur Begrüssung ganz offiziell wieder drin. 

Weitere Öffnungsschritte stehen jedoch bereits wieder auf der Kippe. Wie die «Times» berichtet, zieht die britische Regierung einen langsameren Ausstieg aus den bis 21. Juni geltenden Lockdown-Regeln in Betracht, Premierminister Boris Johnson rief die Bevölkerung zu einer «hohen Dosis Vorsicht» auf. Grund für die plötzliche Skepsis ist die rasante Ausbreitung der indischen Coronavirus-Variante B.1617 im Land.



Trotz einer niedrigen 7-Tage-Inzidenz von lediglich 24 Neuinfektionen pro 100'000 Einwohner wird die Doppelmutante für lokale Ausbrüche im Land verantwortlich gemacht: Bislang wurden rund 2300 Fälle mit der Variante in Grossbritannien registriert – und ihre Zahl hat sich innert nur einer Woche fast verdoppelt.

Die inzwischen auch von der Weltgesundheitsorganisation WHO als «besorgniserregend» eingestufte Mutante zirkuliert auch bereits in der Schweiz. Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu.

Wie viele Fälle sind bislang in der Schweiz bekannt?

Laut dem Bundesamt für Gesundheit BAG wurde die indische Variante B.1.617 in der Schweiz erstmals in einer Probe von Ende März registriert. Infiziert hatte sich demnach eine Person aus dem Kanton Solothurn, die über einen Schweizer Transitflughafen eingereist war.

In der vergangenen Woche dann wurde B.1.617 auch bei zwei Reiserückkehrern in Genf gefunden. Die Stadt gilt seither als Hotspot der Variante in der Schweiz. Laut SRF wurden hier bislang rund 15 Fälle mit der Mutante festgestellt. Schweizweit waren es laut BAG bis gestern 20 registrierte Fälle, die neben Genf in beiden Basel, im Aargau, in Bern, der Waadt und in Zürich auftraten. 

Keinen Grund für grosse Sorge hinsichtlich der Entwicklung sieht Virginie Masserey, Leiterin Sektion Infektionskontrolle beim Bundesamt für Gesundheit. «Die Anzahl entdeckter Fälle ist tief», sagte sie auf der heutigen Pressekonferenz der Fachexperten des Bundes. Man beobachte das Aufkommen der Variante, ansonsten gebe es aber keine neuen Informationen dazu. Martin Ackermann von der Covid-19-Taskforce erklärte, man stehe hinsichtlich der Sequenzierung der Mutante in der Schweiz gut da, denn man habe seit Ende 2020 «sehr viel in die Sequenzierung investiert».

In wie vielen Ländern zirkuliert die Variante bereits?

Laut WHO wurde die indische Doppelmutante B.1.617 und ihre Subvarianten B.1.617.1, B.1.617.2 und B.1.617.3 bis vergangene Woche bereits in 44 Ländern nachgewiesen.

Am heftigsten wütet die Mutante im Ursprungsland Indien. Hier wurden zuletzt innert 24 Stunden wieder mehr als 263'000 neue Infektionen erfasst, wobei die Dunkelziffer bedeutend höher liegen dürfte. Die WHO macht die Variante B.1.617 auf dem Subkontinent bereits für mindestens 50 Prozent der Infektionen und für 30 Prozent aller Covid-bedingten Todesfälle verantwortlich.

Nach Indien folgt Grossbritannien mit inzwischen bereits mehr als 2300 bestätigten Fällen, wie der britische Gesundheitsminister Matt Hancock gestern im Unterhaus erklärte. Noch am 12. Mai waren rund 1000 Fälle weniger im Land registriert worden. 

Was macht die Variante besonders?

Viren mutieren ständig, und natürlich stellt das Coronavirus hierbei keine Ausnahme dar. Bislang sind rund 100 Mutanten von SARS-CoV-2 bekannt. Und solange seine Ausbreitung nicht eingedämmt werden kann, entstehen immer neue Mutanten mit bedrohlichem Potenzial.

Die nun auf dem Vormarsch befindliche indische Variante B.1.617 wurde erstmals Anfang Oktober im indischen Bundesstaat Maharashtra nachgewiesen und war zunächst eher unauffällig, bis sie ab Januar 2021 in immer mehr Proben auftauchte.

Am 10. Mai wurde sie schliesslich von der WHO von einer «Variante von Interesse» zur «besorgniserregenden Variante» hochgestuft. Sie gilt damit als Mutante, die sich leichter ausbreitet, womöglich schwerere Krankheiten verursacht, dem Immunsystem entgeht, das klinische Erscheinungsbild verändert oder die Wirksamkeit der bekannten Instrumente verringert.

Gefährlich macht die Variante B.1.617 vor allem, dass sie zwei bereits bekannte Mutationen im Spike-Protein vereint, weshalb sie auch als Doppelmutante bezeichnet wird: Die Mutation E484Q ist bereits aus der südafrikanischen Variante B.1.353 und der brasilianischen Variante P.1 bekannt, die Mutation L452R hingegen aus der südkalifornischen Variante B.1.429.

Bei L452R befürchtet man, dass die Mutation Einfluss auf die Effizienz von Behandlungen mit monoklonalen Antikörpern haben könnte, während E484Q womöglich Antikörper neutralisieren kann, die bei einer früheren Infektion oder durch Impfung gebildet wurden. 

Ist B.1.617 ansteckender?

Laut der führenden WHO-Wissenschaftlerin Maria Van Kerkhove weisen «vorliegende Informationen auf eine erhöhte Übertragbarkeit» hin. Zudem, so Kerkhove, legten Studienergebnisse nahe, dass das menschliche Immunsystem weniger stark auf die Variante reagiere. Allerdings meint man bei der WHO auch, dass noch weitere Forschungen zur Virusvariante nötig sind, um hier definitive Schlüsse zu ziehen. 

In Grossbritannien, wo sehr viele Virenproben sequenziert werden, sieht man die indische Variante allerdings bereits auf der Überholspur. Sharon Peacock von der Universität Cambridge, die das «COVID-19 Genomics UK Consortium» leitet, erklärte, die Untervariante B.1.617.2 der indischen Doppelmutante habe einen signifikanten Ausbreitungsvorteil gegenüber der britischen Variante B.1.1.7. Deshalb sei plausibel, dass B.1.617.2 in England schon bald die dominierende Variante sei.

Ist die Variante tödlicher?

Ob die indische Variante schwere Krankheitsverläufe und auch mehr Tote nach sich zieht, ist derzeit noch schwer abzuschätzen. Laut «Public Health England» gab es zuletzt keine ausreichenden Beweise dafür, dass die Variante «eine schwerere Krankheit verursacht oder die derzeit eingesetzten Impfstoffe weniger wirksam macht».

Laut einer Untersuchung deutscher Wissenschaftler konnte die Mutante unter Laborbedingungen allerdings leichter in Darm- und Lungenzellen eindringen und zudem leichter den Antikörpern, die durch Impfung oder Infektion gebildet werden, entgehen. Eine weitere Studie an Hamstern zeigte zudem schwerere Lungenentzündungen bei den Tieren als beim ursprünglichen Wildtypus. Allerdings ist anzumerken, dass sich beide Ergebnisse nicht einfach auf den Menschen übertragen lassen.

Wirken Impfungen gegen die Variante?

Auch wenn es Indikatoren dafür gibt, dass die Variante dem Immunsystem leichter entkommen kann, scheinen Impfstoffe bislang immerhin zuverlässig vor schweren Krankheitsverläufen zu schützen. So sind laut einer aktuellen US-Studie immerhin die Corona-Impfstoffe von Pfizer/Biontech und Moderna hochwirksam gegen die Variante: «Wir haben festgestellt, dass die Antikörper des Impfstoffs zwar ein wenig schwächer gegen die Varianten wirken, aber nicht so sehr, dass es unserer Auffassung nach grosse Auswirkungen auf die Schutzfähigkeit der Impfstoffe hätte», erklärte dazu Nathaniel Landau, einer der Verfasser der Studie.

Auch Masserey vom BAG betonte heute, dass erste Beobachtungen zeigten, dass die beiden in der Schweiz zugelassenen Impfstoffe von Pfizer/Biontech und Moderna auch gegen die indische Variante schützen würden. 

Ebenfalls scheint der Impfstoff von Astrazeneca vor schweren Verläufen nach einer Infektion mit der indischen Variante zu schützen: In London hatten sich in einem Altersheim zwar 15 Personen angesteckt, nachdem sie bereits mit Astrazeneca geimpft waren – allerdings war bei ihnen der Impfschutz wohl noch nicht komplett aufgebaut. Alle überlebten immerhin die Infektion.

Der deutsche Experte Christian Drosten zeigte sich in seinem Podcast zudem optimistisch, dass sich bestehende Impfstoffe durch einfache «Updates» relativ rasch an sogenannte «Immunescape-Mutanten» anpassen lassen. Ebenfalls zeigte sich Biontech-Chef Ugur Sahin «zuversichtlich», dass der von seinem Unternehmen gemeinsam mit dem Pharmakonzern Pfizer entwickelte Wirkstoff auch gegen die in Indien aufgetretene Variante wirke. Man habe bereits 30 Corona-Varianten getestet – und bei fast allen funktioniere der Impfstoff so gut wie bei der Ursprungsform des Coronavirus.