Analyst zum Krieg in der Ukraine «Westliche Waffensysteme werden zerstört werden»

Von Philipp Dahm

9.6.2023

Moskau verkündet Abwehr von ukrainischer Offensive in Region Saporischschja

Moskau verkündet Abwehr von ukrainischer Offensive in Region Saporischschja

Die russischen Streitkräfte haben nach Angaben von Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Donnerstagmorgen eine Offensive der ukrainischen Armee im Süden der Ukraine abgewehrt.

08.06.2023

blue News spricht mit dem Militär-Analysten Niklas Masuhr über die ukrainische Gegenoffensive, russische Aufklärung, Bindung militärischer Kräfte und die erratischen Wege eines Jewgeni Prigoschin.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Sicherheitsforscher Niklas Masuhr von der ETH Zürich glaubt, die ukrainische Gegenoffensive habe bereits angefangen.
  • Ein «Startschuss», nach dem an allen Fronten Panzer rollen, dürfe man aber nicht erwarten. Vielmehr würden Sektoren getestet und verstärkt angegriffen, wenn sich Schwächen zeigten.
  • Die russische Aufklärung verhindert, dass sich grosse Truppenteile unbemerkt konzentrieren können.
  • Kiew muss laut Masuhr abwägen, welche Kräfte es für eine Offensive einsetzt, weil diese im weiteren Kriegsverlauf womöglich nicht mehr zur Verfügung stehen.
  • Kritik an der russischen Militärführung wird derzeit höchstens aus der nationalistischen Ecke akzeptiert.
Zur Person
ETH ZH

Niklas Masuhr ist Militär-Analyst und Sicherheitsforscher am Center for Security Studies der ETH Zürich.

Herr Masuhr, läuft die ukrainische Gegenoffensive bereits, oder nicht?

Ich denke, sie läuft schon – die Frage ist, wo man die Grenze zieht. Ich glaube, dass die Operationen wie Schläge gegen die russische Infrastruktur und Logistik, die man in den letzten Wochen beobachten konnte, zu einem gewissen Grad dazuzählen kann. Im Englischen nennt man das shaping operations, es waren also bereits vorbereitende Massnahmen.

Aber?

Mir kommt die Diskussion manchmal künstlich vor: Wo fängt eine Gegenoffensive an? Die Vorstellung, dass es einen Startschuss gibt, und dann rollen an allen Frontabschnitten die Panzer los, ist effektiv unrealistisch. Es geht darum, an verschiedenen Punkten den Druck zu erhöhen, und das muss koordiniert werden. Wenn die Offensive rollt, wird es Sektoren geben, die stärker bespielt werden als andere, auch abhängig davon, wo am ehesten Erfolge erzielt werden.

Kann man heutzutage unbemerkt Truppen auffahren, wenn man eine Offensive starten will?

Nein, eigentlich nicht. Bisher haben wir mit Ausnahme der ersten Phase des Krieges gesehen, dass auf taktischer Ebene meistens mit recht kleinen Verbänden gekämpft wird. Vielleicht ändert sich das jetzt. Aber aufgrund der Sättigung mit Sensoren wird die Konzentration von Truppen erschwert, die man insbesondere für Offensivaktionen benötigt. Man weiss, dass die Ukrainer westliche Aufklärungsergebnisse und Daten bekommen. Die Russen haben aber auch insbesondere Aufklärungsdrohnen und -flugzeuge.

Das heisst?

Das bedeutet: Operative Überraschung entsteht eher weniger dadurch, dass man grosse Truppenteile unbemerkt verschiebt, sondern dass man in gewissen Sektoren stärker zuschlägt als in anderen und dann schnell Truppen verlegt, um Schwächen auszunutzen.

Hätten ukrainische Truppen auf der rechten, westlichen Seite Deckung gehabt?

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass die Qualität insbesondere der russischen Aufklärung abnimmt, je weiter man von der Front weggeht. Man hat während des Krieges gesehen, dass Russland immer schlecht darin war, mobile Ziele auf grössere Distanzen präzise zu treffen. Aber in Cherson in Frontnähe werden die Aufklärungsdaten noch gut gewesen sein, was sich auch darin zeigt, dass russische Truppen mittlerweile effektiver Loiteringmunition gegen ukrainische Artilleriestellungen eingesetzt haben.

Glauben Sie, Kiew hatte geplant, über den Dnjepr vorzustossen, um eine Offensive in Saporischschja flankierend zu unterstützen?

Ich bin eher skeptisch, dass die Ukraine einen amphibischen Angriff über den Dnjepr mit signifikanten Truppen unternommen hätte. Das wäre wohl mit recht hohen Risiken verbunden. Die Russen hatten ein halbes Jahr Zeit, sich einzugraben. Sie haben Artillerie in Stellung. Am Ostufer gibt es zwei russische Verteidigungslinien. Aber die Aussicht hat russische Truppen gezwungen, dort in Position zu bleiben.

Es werden also Kräfte gebunden?

Es ist analog zu den Debatten, die es um russische Vorstösse aus Belarus gab. Politisch hielt man solche Vorstösse für unwahrscheinlich. Aber die Ukraine braucht wohl zumindest eine Minimalabsicherung an der Grenze. Dass es eine virtuelle Abnutzung von Truppen gibt, die gebunden werden, gab es auf russischer Seite auch im Oblast Cherson – auch wenn es mehr oder weniger Konsens unter Analysten ist, dass ein mechanisierter Vorstoss der Ukraine über den Dnjepr eher unwahrscheinlich gewesen wäre. Was man bisher dort gesehen hat, waren vor allem Kommando- und Aufklärungsaktionen.

Lagebild Ukraine: Das Schlachtfeld kommt mehr und mehr in Bewegung

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Auch in Bachmut ist mit einem Vorstoss an den Flanken gerechnet worden, doch viel ist nicht passiert: Ist das eine Hinhaltetaktik?

Bisher hat es den Anschein gehabt, dass die Ukraine vor allem die Linien in Saporischschja angreift, aber das heisst nicht, dass in den nächsten Tagen und Wochen in Luhansk und Donezk nicht auch mehr passiert. Mein Eindruck ist, dass die erhoffte Umfassung russischer Truppen in Bachmut eher die Hoffnung von Unterstützern der Ukraine gewesen ist, um das Festhalten an der Verteidigung der Stadt, das kontrovers diskutiert wurde, zu erklären. Was nicht notwendigerweise heisst, dass Flankenangriffe dort keine valide Option sein könnten.

Schadet der Erwartungsdruck an die Gegenoffensive der Ukraine?

Ich möchte die Frage so beantworten: Hier müssen mehrere Parameter in Einklang gebracht werden. Das eine ist die Erwartungshaltung im Westen und im eigenen Land. Das andere ist die militärische Realität. Es ist durchaus möglich, dass die Ukraine im Lauf der Offensive in ein Dilemma kommt. Die Abwägung wird dann sein, wie risikoreich sie in bestimmten Sektoren agieren kann. Jede Offensivaktion kostet Leben, Material und Munition. Das fehlt dann beim nächsten Angriff. Strategisch steht dahinter die Frage, wie stark die Ukraine jetzt auf diese Gegenoffensive setzt, und was hält sie für den weiteren Kriegsverlauf zurück? Erfolgsdruck und politische Faktoren spielen dabei eine Rolle, aber welche das ist, kann ich von aussen nicht beurteilen.

Die russische Armee will bereits mehrere Leopard-Panzer zerstört haben: Zeugt diese Propaganda von einer Angst vor den westlichen Waffen?

Ob das Angst ist, weiss ich nicht. Das russische Militär hat natürlich die Debatte im Westen mitbekommen. Und auch, dass gerade im deutschsprachigen Raum die Unverwundbarkeit von Systemen wie dem Leopard zum Teil übertrieben worden ist. Ein Leopard 2A4 kann zerstört werden. Das haben wir in Syrien gesehen. Westliche Waffensysteme in der Ukraine werden zerstört werden. Wenn die russische Seite demonstrieren kann, dass diese Systeme nicht das halten, was sie versprechen, wäre das von Vorteil für sie. Wie sich diese Systeme jedoch am Ende des Tages auswirken werden, wissen wir nicht.

Prigoschin prophezeit Russland Verluste, wenn die Offensive beginnt: Ist der Wagner-Chef bloss besorgt?

Ich kann zugegebenermassen das politische Spiel von Jewgeni Prigoschin nicht vollumfänglich durchblicken. Es gibt ein Genre russischer Militärblogger und -kommentatoren à la Igor Girkin, die sich aus nationalistischer Sicht über die Führung des Kriegs beschweren. Nicht, weil der Krieg stattfindet, sondern wegen der mutmasslichen Inkompetenz des Verteidigungsministeriums und der Armee. Mein Eindruck ist, dass Kritik noch am ehesten aus diesem Bereich heraus geäussert wird.

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Der Chef der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, hat erneut schwere Vorwürfe gegen die reguläre russische Armee erhoben. Soldaten hätten Mitte Mai eine Strasse vermint, auf der seine Kämpfer aus der mittlerweile eroberten ostukrainischen Stadt Bachmut hätten herausfahren wollen. Das teilte Prigoschin am Sonntagabend auf Telegram mit.

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Gilt das auch für Prigoschin?

Prigoschin hat sich bereits früh im Krieg ähnlich geäussert, auch bevor Wagner eine prominente Rolle gespielt hat. Was natürlich mit reinspielt: Man hat während der Schlacht um Bachmut gesehen, dass es eine Rivalität zwischen Prigoschin, dem Verteidigungsminister Sergei Schoigu und dem Oberkommandierenden Waleri Gerassimow gibt. Da überlappt sich zum Teil die militärische Lage mit der politischen Kommunikation.

Wird Wagner im Krieg in der Ukraine noch eine Rolle spielen?

Ich bin mir nicht sicher, ob der angekündigte Abzug Substanz annimmt. Es gibt im Wesentlichen zwei Arten von Wagner-Truppen: Es gibt die Häftlingsbataillone. Seit einigen Monaten wissen wir, dass auch das russische Verteidigungsministerium versucht, solche Einheiten aufzustellen. Das passiert möglicherweise auch, um die ökologische Nische von Prigoschin weiter einzuschränken. Zum anderen gibt es die erfahrenen und relativ gut ausgerüsteten Kader, die auch in der Schlacht um Bachmut eingesetzt wurden. Es ist diese Kategorie, die auch im Ausland eingesetzt wird. Elemente der Gruppe Wagner werden sicherlich noch Rollen spielen. Aber in welchem Umfang, wird sich zeigen müssen. Es hängt von militärischen, aber auch politischen Faktoren ab.