Lagebild Ukraine Panzer rollen Richtung Süden – ist das nun Kiews Grossangriff?

Von Philipp Dahm

5.6.2023

Rückzugswege vermint: Söldnerchef Prigoschin macht Armee Vorwürfe

Rückzugswege vermint: Söldnerchef Prigoschin macht Armee Vorwürfe

Der Chef der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, hat erneut schwere Vorwürfe gegen die reguläre russische Armee erhoben. Soldaten hätten Mitte Mai eine Strasse vermint, auf der seine Kämpfer aus der mittlerweile eroberten ostukrainischen Stadt Bachmut hätten herausfahren wollen. Das teilte Prigoschin am Sonntagabend auf Telegram mit.

05.06.2023

Die Verteidiger rufen seit Tagen zu Stillschweigen auf – und nun kommt offenbar gerade Bewegung in den festgefahrenen Stellungskrieg in der Ukraine. Die grosse Unklarheit seitens Kiew ist aber auch Teil der Taktik.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen.

  • Kiews Truppen haben im Süden zwei Dörfer befreit, die auf dem Weg nach Mariupol liegen. Das heizt Spekulationen um einen Beginn der ukrainischen Grossoffensive an.
  • Partisanen-Angriffe in Belgorod binden weiter russische Soldaten.
  • Die russische Armee verlegt Truppen nach Bachmut und Belgorod.
  • Ukrainische Langstrecken-Artillerie greift diese Truppen unter anderem in Melitopol, Berdjansk und Mariupol an.

Ja, was denn nun, Kiew? Erst erzählt Wolodymyr Selenskyj dem «Wall Street Journal», die ukrainische Gegenoffensive habe bereits begonnen. Dann berichtet Ihor Zhovkva, ein Berater des Präsidenten, der «Times», das Land habe immer noch nicht genug Waffen für einen Grossangriff.

Und nun starten die Streitkräfte auch noch eine Kampagne, die dazu aufruft, den Mund zu halten: Soldat*innen wie auch Unterstützer*innen sollen sich zurücknehmen, um die Gegenoffensive nicht zu gefährden. Die Verwirrung hält also an – und das ist genau das, was Kiew erreichen will.

Die Erwartungen an den kommenden Vorstoss sind hoch – zumindest in Washington. Das verrät ein wichtiger Sicherheitsberater von Präsident Joe Biden: Jake Sullivan rechnet damit, dass Kiew «strategisch bedeutendes Territorium» zurückerobern wird. «Wie viel genau und wo, hängt von den Entwicklungen am Boden ab», sagt er CNN. «Wir glauben, dass die Ukrainer bei dieser Gegenoffensive Erfolg haben werden.

Langstrecken-Angriffe im Süden

Kiew profitiert derzeit davon, dass hinter der russischen Front viel in Bewegung ist. Nachdem Russland seine Truppen im Süden der Ukraine verstärkt hat, weil erwartet wird, dass die ukrainische Gegenoffensive dort zuschlagen wird, brauchen nun die Stellungen in Bachmut und an der Heimatfront im Oblast Belgorod Nachschub.

Reporting from Ukraine zeigt die Ziele der ukrainischen Artillerie hinter der Frontlinie in der Ukraine. Im Süden sind Tokmak, Melitopol, Berdjansk und Mariupol im Visier.
Reporting from Ukraine zeigt die Ziele der ukrainischen Artillerie hinter der Frontlinie in der Ukraine. Im Süden sind Tokmak, Melitopol, Berdjansk und Mariupol im Visier.
Bild: YouTube/Reporting from Ukrraine

Die Verlegungen werden in der Regel über die Schiene abgewickelt – und so werden Eisenbahn-Linien, aber auch Depots und Hafenanlagen zum Ziel. An der Küste am Asow'schen Meer werden erneut Melitopol, Berdjansk und Mariupol – zum Teil mehrfach – von ukrainischer Langstrecken-Artillerie angegriffen.

Klar ist: Mensch und Material zu attackieren, das in einem Zug steckt, ist effektiver, als sie in Gräben, Bunkern und geschützten Stellungen zu treffen. Die Waffe der Wahl scheint dabei der britische Marschflugkörper Storm Shadow zu sein, der seine Ziele aus einer Entfernung von 240 Kilometer getroffen haben soll.

Was am Boden abgeht

Dass die russische Armee überhaupt derart viele Truppen bewegen muss, ist den Offensiven im Norden geschuldet. Da wäre zum einen der Angriff russischer Truppen auf ihre Heimat, genauer gesagt auf den Oblast Belgorod, der von ukrainischer Artillerie unterstützt wird. Was Wladimir Putin ärgern wird: Auch polnische Freiwillige sollen die Partisanen unterstützen.

Reporting from Ukraine zeigt, wo oppositionelle russische Kämpfer die Grenze zu ihrem Heimatland überschritten haben.
Reporting from Ukraine zeigt, wo oppositionelle russische Kämpfer die Grenze zu ihrem Heimatland überschritten haben.
Bild: YouTube/Reporting from Ukraine

Dabei haben beide Seiten Gefangene gemacht. Die Legion Freiheit Russlands hat ihre 13 Häftlinge nach eigenen Angaben dem Gouverneur von Belgorod zum Tausch angeboten, doch Wjatscheslaw Gladkow habe abgelehnt. Nun sollen sie stattdessen der Ukraine übergeben werden.

Russland hat reguläre Infanterie zusammengezogen, doch auch Soldaten der Gruppe Wagner arbeiten in der Region. Sogar die thermobarische Artillerie TOS-1 setzt Moskau auf eigenem Boden ein. Wagner-Söldner haben offenbar einen Partisanen geschnappt – und Jewgeni Prigoschin feiert den Erfolg in den sozialen Netzwerken. Seine Botschaft: Wir können das Land verteidigen, Moskau nicht.

Auch Bachmut bleibt umkämpft

Weiter wird auch in und um Bachmut herum gekämpft. Wenn man Prigoschin Glauben schenken will, haben Kiews Kräfte den südwestlichen Zipfel der Stadt zurückerobert. Von dort aus könnten sie Klischschtijwka angreifen, das sie beharrlich gegen eine Einnahme durch die ukrainische Armee verwehrt.

Im Süden von Bachmut ist Klischschtijwka als Stellung stark ausgebaut worden. Vom Südwesten Bachmuts könnte sich nun ein neuer Angriffsvektor ergeben.
Im Süden von Bachmut ist Klischschtijwka als Stellung stark ausgebaut worden. Vom Südwesten Bachmuts könnte sich nun ein neuer Angriffsvektor ergeben.
Bild: YouTube/Reporting from Ukraine

Ukrainische Streitkräfte haben angeblich die Dörfer Nowodariwka und Neskuchne befreit, die an der Grenze zwischen den Regionen Donezk und Saporischschja liegen. Ob es sich um einen begrenzten Vorstoss handelt, lässt sich schwer einschätzen. Aber: Die Dörfer liegen auf dem Weg nach Mariupol. 

Dass Russland die kommende ukrainische Offensive im Süden vermutet, zeigt sich in heftigen Angriffen auf vermutete ukrainische Stellungen in der Region, wobei Artillerie, Kampfflugzeuge und Raketenwerfer zum Einsatz kommen. Nachdem am 3. Juni 24 Orte und am 4. Juni 22 Siedlungen attackiert wurden, sind es am 5. Juni bereits 71 Angriffe auf 19 Orte.

Die deutsche «Bild» hat ob dieser Aktivitäten im Süden der Ukraine nun den Beginn der Gegenoffensive ausgegriffen. Es ist möglich, dass das Boulevardblatt recht behält. Vielleicht hätte die Berliner Redaktion aber auch den Mund gehalten, wie von Verteidigungsminister Oleksij Resnikow gefordert.

Um wie er die Band Depeche Mode zu zitieren: Was nun wirklich die «Policy if Truth» ist, wird sich sehr bald zeigen.