Befreite schildern Zustände im Asow-Stahlwerk «Sie sterben vor unseren Augen»

uri

2.5.2022

Zivilisten aus Stahlwerk in Mariupol evakuiert

Zivilisten aus Stahlwerk in Mariupol evakuiert

Aus dem von russischen Truppen belagerten Stahlwerk Asowstal in der südostukrainischen Stadt Mariopol sind mehrere Dutzend Zivilisten evakuiert worden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte am Sonntag einen entsprechenden Bericht.

02.05.2022

Seit Wochen harren Hunderte Zivilisten und ukrainische Kämpfer unter unhaltbaren Bedingungen im Asow-Stahlwerk von Mariupol aus. Nun kamen Dutzende Frauen und Kinder frei – und teilen ihre Erfahrungen.

uri

Todesangst ist ein ständiger Begleiter für die Menschen, die in den Bunkeranlagen unter dem Asow-Stahlwerk Schutz gesucht haben. Bisher gab es nur wenige Berichte aus dem Inneren. Internet und Strom sind im umkämpften Areal von Mariupol ausgefallen, nur an wenigen besonders gefährlichen Stellen gibt es angeblich noch Handy-Empfang.

Von den unsäglichen Zuständen in der letzten Bastion des ukrainischen Widerstands in Mariupol berichten nun jene Frauen und Kinder, die am Sonntag evakuiert werden konnten. Eine davon ist Natalia Usmanowa, die ins nur 30 Kilometer entfernte Dorf Bezimenne gebracht wurde.

Ihr sei fast jedes Mal wieder das Herz stehengeblieben, wenn nach einer Detonation Betonstaub auf sie heruntergerieselt sei, sagte die 37-Jährige der Nachrichtenagentur Reuters. Dann habe sie schreckliche Angst um die Stabilität ihres Bunkers bekommen. «Ich hatte solche Angst, dass er einstürzen würde.»

Der Screenshot eines Videos der Asow-Brigaden zeigt, wie Zivilistinnen durch Trümmer in der Anlage zu Evakuierung begleitet werden.
Der Screenshot eines Videos der Asow-Brigaden zeigt, wie Zivilistinnen durch Trümmer in der Anlage zu Evakuierung begleitet werden.
Bild: Keystone

Die Menschen unter dem Stahlwerk würden unter Sauerstoffmangel leiden, führte Usmanowa weiter aus. «Wir haben die Sonne so lange nicht gesehen.» Der Terror, dem die Menschen hier ausgesetzt seien, sei unvorstellbar: «Ich habe hier gelebt und mein ganzes Leben lang gearbeitet. Aber was wir gesehen haben, war einfach schrecklich.»

«Es ist stickig und feucht, mir fehlt die Luft zum Atmen»

Bereits wenige Tage vor der geglückten Evakuierung vom Sonntag konnte der «Spiegel» Kontakt zu einigen der Eingeschlossenen aufnehmen. Man werde durchgehend bombardiert oder beschossen, teilte die 32-jährige Schriftstellerin Valerija via Telegram mit. Sie hat sich den Asow-Brigaden im Stahlwerk angeschlossen. Laut ihrer Schilderung müssen die Ärzte im Spital auf dem Gelände mit einer Taschenlampe operieren, weil es keinen Strom mehr gebe. Rund um die Uhr müssten Soldaten mit fehlenden Gliedmassen und schweren Schrapnellwunden behandelt werden.

Medikamente oder Narkosemittel seien zudem aufgebraucht und auch Nahrungsmittel und Wasser würden knapp. «Selbst wenn eine Operation erfolgreich ist, ist das Risiko gross, dass die Menschen Wundbrand bekommen oder eine Blutvergiftung», erklärte die Asow-Kämpferin. Viele Soldaten würden nur überleben, wenn man sie sofort evakuiere. «Andere sterben vor unseren Augen», schildert sie die Zustände.

Ein undatiertes Bild soll einen verletzten Asow-Kämpfer im Stahlwerk zeigen. 
Ein undatiertes Bild soll einen verletzten Asow-Kämpfer im Stahlwerk zeigen. 
Bild: Keystone

Die Stimmung im Stahlwerk sei am Boden, teilte die 57-jährige Santitässoldatin Olena mit. «Es ist stickig und feucht, mir fehlt die Luft zum Atmen.» In den Nächten sei die Angst am grössten, denn dann sei auch der Beschuss am stärksten. «Wir können uns nicht mehr verteidigen. Ich spüre Angst und Hoffnungslosigkeit.»

«Es gibt hier Verwundete, viele Verwundete»

Olenas Tochter, die Informatikerin Lesja, die ihren vollen Namen ebenfalls nicht angeben wollte und selbst nicht in Mariupol lebt, berichtete dem Nachrichtenmagazin über ihre unregelmässigen Kontakte zur Mutter. Diese habe in ihrer letzten Nachricht geschrieben: «Jeder hier ist wie ein Zombie, es ist schrecklich». Auch frage ihre Mutter inzwischen ständig, wann man sie retten werde und ob es Pläne gebe, die Blockade des Stahlwerks zu durchbrechen. Sie befürchte zudem den Einsatz Chemiewaffen: «Sie hat Angst, dass man die Zivilisten evakuiert – und die anderen Militärangehörigen umbringt», erklärte Lesja dem «Spiegel».

Michail Aleksandrowitsch Werschinin, Hauptmann der Streifenpolizei des Bezirks Donezk, berichtete über den Nachrichtendienst Signal, er befinde sich seit dem 7. April im Stahlwerk. Er sei damals verwundet und ins dortige Spital gebracht worden. Laut seinen Angaben befinden sich derzeit einige Hundert Zivilisten inklusive Kindern und Babys auf dem Gelände, daneben Kämpfer des Asow-Regiments und weiterer Einheiten. «Es gibt hier Verwundete, viele Verwundete. Sie brauchen dringend medizinische Hilfe, weil sie schwere Verletzungen haben und es hier nicht die richtigen Bedingungen gibt, ihnen zu helfen», berichtete Werschinin.

Ihm sei klar, dass die Eingeschlossenen nicht in der Position seien, Forderungen zu stellen, meint Werschinin. «Aber was hier in Asow-Stahl passiert, im 21. Jahrhundert, in einem europäischen Land, ist Blasphemie gegenüber allen Prinzipien demokratischer Staaten. Es ist ein Verstoss gegen alle konstitutionellen Normen, alle moralischen Prinzipien. Wir stellen keine Forderungen, sondern bitten die Gemeinschaft, die Menschen hier rauszuholen – jetzt.»

Noch 1000 Zivilisten sollen sich im Stahlwerk befinden

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte am Sonntag, er hoffe, dass am Montag alle notwendigen Bedingungen erfüllt würden, um weitere Menschen aus Mariupol zu bringen. «Wir werden weiterhin alles tun, um unsere Leute aus Azovstal und aus Mariupol insgesamt zu evakuieren», sagte Selenskyj.

Ein Bus-Konvoi hat am Wochenende mehrere Dutzend Zivilisten aus dem von russischen Soldaten belagerten Stahlwerk Azovstal gebracht. Beteiligt waren auch die Vereinten Nationen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Selenskyj sprach von rund 100 Menschen, die durch den Belagerungsring gebracht werden konnten.

Nach ukrainischen Angaben sollen allein in den Bunkeranlagen des Stahlwerks noch etwa 1000 Zivilisten eingeschlossen sein. Russland spricht von etwa 2500 Menschen, insbesondere Militärangehörigen und ausländischen Söldnern.

Leichen-Geruch in der Luft

Swjastoslaw Palamar, der stellvertretende Kommandeur des für die Stahlfabrik zuständigen Regiments, sagte der Nachrichtenagentur AP am Sonntag, die Anlage werde neben seinem Asow-Regiment auch von einer Brigade der Marineinfanterie und Mitgliedern von Polizei, Grenzschutz und Küstenwache geschützt. Die Verteidigung der Stahlfabrik – der letzte Teil in Mariupol, der nicht unter russischer Kontrolle steht – sei durch die Anwesenheit von Kindern und Zivilisten erschwert, so Palamar. Es gebe zudem viele Verletzte vor Ort. Das Trinkwasser reiche nicht aus; in der Luft liege der Gestank verwesender Leichen.

Alle Menschen sollten aus der Anlage gebracht werden, fordert Palamar. Es sei indes schwierig, zu Verletzten zu gelangen, denn es lägen Trümmer in der Anlage, aber es gebe keine Spezialausrüstung, um sie zu beseitigen. «Es fällt Soldaten schwer, tonnenschwere Platten nur mit ihren Armen aufzuheben.» Der Widerstand seiner Kämpfer werde aber weitergehen, solange es keinen gegensätzlichen Befehl gebe, teilte der Asow-Offizier mit.

Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AP