Dammbruch in der Ukraine Was für Putin als Täter spricht – und was dagegen

Von Philipp Dahm

7.6.2023

Zerstörung und Leid nach Dammbruch in der Ukraine

Zerstörung und Leid nach Dammbruch in der Ukraine

11.06.2023

Russland und die Ukraine werfen sich gegenseitig vor, für die Zerstörung des Kachowka-Staudamms verantwortlich zu sein. Was für die jeweiligen Behauptungen spricht und was nicht, liest du hier nach.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für sich zusammen

  • Experten halten es für unwahrscheinlich, dass Artillerie-Beschuss oder Wasserdruck den Kachowka-Damm zerstört hat.
  • Der Damm dürfte mit Hunderten Kilogramm Sprengstoff von innen her zerstört worden sein.
  • Russland kontrolliert das Bauwerk bis zum westlichen Zipfel.
  • Russlands Mann in Nowa Kachowka hat sich verdächtig geäussert.
  • Es ist denkbar, dass der Kreml nur einen Teil des Dammes sprengen wollte, um die Dnjepr-Inseln zu fluten und einen ukrainischen Vorstoss über den Fluss zu erschweren.

Der Kachowka-Damm ist zerstört, der resultierende Schaden ist noch gar nicht abzusehen. Der Bruch ist eine Katastrophe, die offenbar keine natürliche Ursache hat und diverse unabsehbare Folgen nach sich zieht.

Die «New York Times» berichtet, Experten seien sich einig, dass es möglich, aber unwahrscheinlich sei, dass der Damm unter dem Wasserdruck kollabiert ist oder von aussen angegriffen worden ist. Der Grund: Das Wasserkraftwerk Kachowka und sein Damm sind in den 60ern von der Sowjetunion hochgezogen worden.

Tetiana aus Cherson hat am 6. Juni mit ihren beiden Hunden mit den Wassermassen zu kämpfen.
Tetiana aus Cherson hat am 6. Juni mit ihren beiden Hunden mit den Wassermassen zu kämpfen.
Keystone

«Ein Raketenangriff könnte nicht eine solche Zerstörung anrichten, denn das Kraftwerk wurde so gebaut, dass es einer Atombombe standhält», erklärt Ihor Syrota vom Betreiber Ukrhydroenergo. «Es ist klar: Es gab eine Explosion innerhalb des Standorts.» Andere Fachleute teilen in der «New York Times» diese Einschätzung.

Was dafür spricht, dass es Russland war

Nach dem Bruch waren die beiden Enden des Dammes offensichtlich noch intakt, was dafür spricht, dass das Bauwerk in der Mitte getroffen worden ist. Ein Beschuss von aussen oder ein zu hoher Wasserdruck sind als Ursache nicht nur unwahrscheinlich – vielmehr wäre eine zielgerichtete Sprengung im Inneren eine Voraussetzung. Selbst für diese wären laut Experten Hunderte Kilogramm Sprengstoff notwendig.

An den Seiten ist der Damm nach seiner Zerstörung zunächst noch intakt.
An den Seiten ist der Damm nach seiner Zerstörung zunächst noch intakt.
EPA

Russland hat den Damm im November für den schnellen Rückzug aus Cherson genutzt und hat das Ende der Strasse am westlichen Ufer anschliessend gesprengt, um ein Nachsetzen ukrainischer Truppen zu verhindern. Nowa Kachowka, das Wasserkraftwerk und der Damm selbst standen also unter russischer Kontrolle. Es ist kaum vorstellbar, dass ukrainische Saboteure unter diesen Umständen unbemerkt kiloweise Sprengstoff heranschaffen.

Der Kachwoka-Damm vor dem Bruch: Rechts ist die von den Russen zerstörte Strasse zu sehen.
Der Kachwoka-Damm vor dem Bruch: Rechts ist die von den Russen zerstörte Strasse zu sehen.
Keystone

Verdächtig ist auch die offizielle Kommunikation: Der Kopf der russischen Administration von Nowa Kachowka veröffentlicht eine Stunde nach dem Dammbruch ein Video, in dem er eine Explosion leugnet. Die Nacht sei ruhig gewesen, sagt Wladimir Leontiew. 50 Minuten später folgt ein zweiter Clip, in dem es plötzlich heisst, der Damm sei die ganze Nacht von Artillerie beschossen worden und die Schleusen seien kaputt.

Was Putins Motive sein könnten

Das ursprüngliche Ziel dürfte es gewesen sein, die Dnjepr-Inseln zu fluten und den Fluss zu erweitern, sodass ein Vorstoss vom rechten, westlichen Ufer unmöglich wird. Nachdem die ukrainische Offensive offenbar langsam ins Rollen kommt, soll verhindert werden, dass ein kommender Angriff in Saporischschja an der Flanke von Truppen aus Cherson unterstützt wird. 

Dass er kommen könnte, deuten Vorstösse und extensive Übungen der ukrainischen Streitkräfte an. Schon im April haben Kiews Soldaten auf der Insel vor Cherson einen Brückenkopf eingenommen – siehe unten stehendes Video. Seither trainieren Spezialkräfte das Übersetzen und veröffentlichen sogar Videos, die ihren Fluss-Kampf gegen die Russen zeigen.

Lagebild Ukraine: Das Schlachtfeld kommt mehr und mehr in Bewegung

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Was dafür spricht, dass es die Ukraine war

Russische Medien erklären den Dammbruch mit ukrainischem Artilleriebeschuss. Neben den oben stehenden Argumenten ergänzt die ukrainische Seite, es sei ihr vor November 2022 in zwei Monaten nicht einmal gelungen, die Antowikabrücke bei Cherson mit Himars-Artillerie zu zerstören. Sie wurde letztlich von russischen Soldaten gesprengt.

Wenn das Wasser in den nächsten zwei Wochen abgelaufen ist, hat die Ukraine nicht mehr 70 Kilometer Flussufer, die passiert werden können, sondern rund 250 Kilometer.
Wenn das Wasser in den nächsten zwei Wochen abgelaufen ist, hat die Ukraine nicht mehr 70 Kilometer Flussufer, die passiert werden können, sondern rund 250 Kilometer.
YouTube/Reporting from Ukraine

Der Dammbruch hat flussabwärts zwar zur Folge, dass der Dnjepr auf eine Breite von bis zu fünf Kilometer anschwillt und ukrainische Vorstösse verunmöglicht, weil diese sofort sichtbar wären. Doch durch das Leeren des Stausees wird flussaufwärts vor der Unglücksstelle der Abstand zwischen den Ufern kleiner. Kiews Kräften bieten sich dort bald neue Optionen, um über den Fluss hinweg den Gegner zu attackieren.

Was Selenskyjs Motive sein könnten

Das russische Verteidigungsministerium stellt es so dar, als habe die Gegenseite zu viele Truppen aus Cherson abgezogen. Aus Angst, die Ukraine könnte erneut die Kontrolle über die Grossstadt verlieren, die ungeschützt sei, sei der Damm gesprengt worden, erzählt Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Es ist dieselbe Argumentation wie von ukrainischer Seite mit verkehrten Vorzeichen.

Die russische Seite wird weiterhin argumentieren, dass Kiew der Krim das Wasser abgraben will. Ohne den Stausee kann die Halbinsel nicht mehr mit Wasser versorgt werden: Ohne Bewässerung ist lediglich der Anbau von Weizen möglich – und auch dessen Ertrag wird sinken. Die Krim-Bauern haben zwar ihre eigenen Reservoirs gefüllt, als der Stausee noch auf seiner jüngsten Rekordhöhe war, doch die werden nicht lange halten.

Fazit

Wenn man den Experten glaubt, die von einer Sprengung innerhalb des Damms ausgehen, kommt eigentlich nur Russland als Täter infrage. Nur: Warum sollte Moskau das tun, wenn das Wasser auch die eigenen Verteidigungsgräben flutet – und auch eigene Truppen auf den Dnjepr-Inseln oder der Halbinsel Kinburn fliehen müssen?

Es ist denkbar, dass die russische Armee nur einen Teil des Damms sprengen wollte, um nur die Dnjepr-Inseln zu treffen, auf denen der ukrainische Gegner stationiert ist. Die Zerstörung und der Druck haben dann jedoch zu einem breiteren Einbruch geführt. Das könnte auch die widersprüchliche Kommunikation von Wladimir Leontiew erklären.

Für diese These spricht auch, dass russische Social-Media-Kanäle angeblich nach dem Dammbruch mitgeteilt hatten, russische Truppen hätten zwei Stunden für eine Evakuierung – und nicht wie offenbar ursprünglich angekündigt drei Tage.

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