Putin rechtfertigt Ukraine-Offensive: «Besser heute als morgen»
Russlands Präsident Wladimir Putin hat bei Beratungen mit hochrangigen Militärs die Invasion in der Ukraine gerechtfertigt. Der Militäreinsatz sei «unvermeidlich».
Eigentlich steht Wladimir Putin im Krieg gegen die Ukraine ziemlich unter Druck. Doch aufgeben, so scheint es, will der Kreml-Herrscher noch lange nicht. Jüngste Aktivitäten seiner Armee lassen Übles vermuten.
Wladimir Putin will seine Armee deutlich vergrössern. Seine Schwarzmeerflotte wird wieder aktiver. Iran will mehr hochentwickelte Waffen an Russland liefern. Und in Belarus verlegt die russische Armee stärkere Truppenverbände an die Grenze zur Ukraine.
Seit Längerem befürchtet Kiew, dass Putin einen weiteren Grossangriff starten könnte. Spätestens im Frühling, vielleicht sogar noch im Winter. «Die Ukraine erwartet einen massiven russischen Angriff im Januar», bestätigt Militär-Experte Alexander Bollfrass vom ETH Center of Security Studies auf Anfrage von blue News.
Zwar betonte der Kreml-Herrscher zuletzt, dass er den Krieg so schnell wie möglich beenden wolle. Zwischen Putins Worten und Taten aber gibt es eklatante Unterschiede.
Der US-Thinktank «Institute for the Study of War» (ISW) vermutet in seinem aktuellen Lagebericht, dass die scheinbar versöhnliche Rhetorik Putins hauptsächlich nach innen gerichtet ist. Er wolle sich damit von der Verantwortung für den langwierigen Krieg gegen die Ukraine freisprechen und eine Rechtfertigung liefern, warum die russische Gesellschaft immer grössere Opfer bringen muss.
Was hat Putin wirklich vor?
Putins Ansage, das Tempo des Krieges werde nicht erhöht, da dies zu «ungerechtfertigten Verlusten» führe, passt in die verbale PR-Offensive des Kremls. Gleichzeitig verkündet Putin aber, seine Armee um 30 Prozent auf eine Mannstärke von 1,5 Millionen Soldaten zu vergrössern.
Und vor der Krim lässt der die Marine-Muskeln spielen, wie der britische Navy-Experte HI Sutton feststellt. Dort sei ungewöhnlich viel Schiffsverkehr beobachtet worden.
Wagt Putin also noch einmal einen Grossangriff? Womöglich sogar einen erneuten Sturm auf Kiew?
In der Ukraine schliesst man diese Szenarien nicht aus. Die Militärführung argwöhnt schon länger, dass Russland erneut versuchen könnte, von Belarus in die Ukraine vorzustossen. Zu Beginn des Kriegs war eine aus dem nördlichen Nachbarland einmarschierte russische Kampfgruppe bis in die Vororte von Kiew gelangt, wurde dann aber von den Ukrainern heftig bekämpft und zum Rückzug gezwungen.
Was passiert in Belarus?
Besorgt ist Kiew vor allem über die Aktivitäten in Belarus. Dort habe die russische Armee neben Panzern, Schützenpanzern und Transportern auch diverses militärisches Gerät in die Nähe der Grenze gebracht, berichteten die «Ukrajinska Prawda» und die Agentur Unian am Dienstag unter Berufung auf das belarussische Hacker-Kollektiv «Hajun Project». Die Gruppe verfolgt alle Aktionen der dort stationierten russischen Truppen.
Nach Einschätzung britischer Militärexperten greift Russland bei der Rekrutenausbildung inzwischen im grossen Stil auf die Hilfe belarussischer Ausbilder zurück. Das geht aus einem Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums in London hervor. Demnach werden Tausende russischer Rekruten vom belarussischen Militär auf einen Einsatz vorbereitet.
Kommt hinzu, dass Wladimir Putin erst vor Kurzem nach Minsk gereist ist: zum ersten Mal seit drei Jahren. Als Reisebegleitung hatte er Verteidigungsminister Sergej Schoigu mitgenommen. Dies wird von vielen Experten als Zeichen gesehen, dass der Kreml den Druck auf den belarussischen Diktator Alexander Lukashenko erhöht, sich an den Kriegshandlungen zu beteiligen. Noch allerdings, so Beobachter, seien die an die Grenze verlegten Verbände für Angriffshandlungen nicht stark genug.
Auch die Pläne zur Vergrösserung der russischen Armee dürften nach Ansicht britischer Militärexperten eine grosse Herausforderung für Putin darstellen. «Es bleibt unklar, wie Russland die Rekruten finden wird, um eine solche Vergrösserung zu erreichen in einer Zeit, wenn seine Streitkräfte unter nie da gewesenem Druck sind in der Ukraine», so die Mitteilung der Briten.
Warum wird die Schwarzmeerflotte wieder aktiver?
Grössere Sorgen bereiten die vermuteten Waffenlieferungen aus dem Iran. So warnt der israelische Geheimdienst Mossad, Teheran plane heimlich, «die Lieferung hoch entwickelter Waffen an Russland zu vertiefen und auszudehnen». Dies würde Putin mehr militärische Optionen verschaffen.
Aufmerksam verfolgt werden auch verstärkte Aktivitäten der Schwarzmeerflotte. Erstmals seit mehreren Wochen seien vor der Hafenstadt Sewastopol auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim zahlreiche russische Kriegsschiffe unterwegs gewesen, schreibt der britische Marine-Experte HI Sutton in seinem Blog.
Darunter sei ein U-Boot der Kilo-Klasse gewesen, das zum Schutz vor Wasserdrohnen von einem Patrouillenboot und einem Helikopter begleitet wurde. Die U-Boote werden unter anderem dafür genutzt, um Marschflugkörper auf die Ukraine abzufeuern. Vier dieser U-Boote seien laut Buttons Analyse derzeit in Sewastopol stationiert.
Der Grund für die plötzlichen Aktivitäten der russischen Marine ist rätselhaft. Sutton vermutet, dass es sich möglicherweise um eine militärische Reaktion Russlands auf den Besuch von Wolodymyr Selenskyj in Washington handelt.
Möglich sind aber auch weitere Kalibr-Angriffe. Nicht ausschliessen will Sutton dabei, dass Russland damit die Republik Moldau ins Visier nimmt. Dort sieht er eine erhöhte Gefahr einer amphibischen Landung: um zu versuchen, eine Landbrücke nach Transnistrien zu schaffen.
Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP, dpa und Keystone-SDA.