Lagebild Ukraine Putins «Landstreitkräfte sind im Potenzial massiv reduziert»

Von Philipp Dahm

21.12.2022

Reparieren, bis der nächste Angriff alles zerstört

Reparieren, bis der nächste Angriff alles zerstört

In der Ukraine leisten zahlreiche Techniker Sisyphusarbeit: Kaum ist die Strom- oder Wasserversorgung wieder repariert, macht der nächste russische Angriff wieder alles zunichte. Die Techniker arbeiten unter hohen Risiko – bei Raketenalarm können

21.12.2022

An den Fronten in der Ukraine geht es nicht mehr um Dörfer, sondern um Strassen und Häuser, die erobert werden. Die deutsche Bundeswehr sieht mit Blick auf den Winter die Ukraine «eindeutig im Vorteil».

Von Philipp Dahm

Es ist kalt, aber nicht kalt genug: In der Ukraine wechseln sich in den kommenden Tagen Regen und Schnee ab. Solange der Winter das Schlachtfeld nicht einfriert, wird es in der Ukraine keine grossen Manöver geben.

Im Nordosten nähern sich die ukrainischen Streitkräfte Kreminna: Sie stehen rund fünf Kilometer vor der Stadt, doch es gehe nur langsam voran, teilt der ukrainische Gouverneur von Luhansk auf Twitter mit. Der Grund dafür seien die vielen Mienen, berichtet Serhij Hajdaj weiter.

Die Front bei Kreminna.
Die Front bei Kreminna.
Karte: Militaryland

Auch bei Bachmut geht es nicht mehr um Dörfer, die eingenommen werden, sondern um Strassenzüge und Häuser, um die gekämpft wird. Und dabei geht es nicht nur um die Verteidigungslinie vor der Stadt selbst: Die Front ist rund 140 Kilometer lang und reicht von Bachmutske und Soledar im Norden von Bachmut bis Klischtschijwka und Kurdjumiwka im Süden.

Die Lage an der Bachmut-Front.
Die Lage an der Bachmut-Front.
Militaryland

Russische Streitkräfte haben zuletzt den östlichen Teil der Stadt erreicht und sich Häuserkämpfe mit den Verteidigern geliefert. Doch nun hat die ukrainische Armee einen Gegenangriff gestartet, der nach eigenen Angaben die Angreifer zurückgedrängt hat.

Bachmut ist «einfach die Hölle»

Demnach konnte die 46. Luftlande-Brigade die Russen aus der Stadt vertreiben und hat Gelände zurückgewonnen, für dessen Einnahme Moskau drei Wochen benötigt habe. Überprüfen lassen sich diese Angaben allerdings nicht.

Seit Mai versuchen Wladmir Putins Soldaten, Bachmut einzunehmen. Von den einst 80'000 Einwohnern sollen sich noch rund 12'000 im Stadtgebiet aufhalten. Wärme, Wasser und Elektrizität gibt es schon lange nicht mehr: Für die Verteidiger ist Bachmut «einfach die Hölle», schreibt die «Financial Times».

Und weiter: «Ukrainische Soldaten beschreiben die Intensität der jüngsten Kämpfe bei Bachmut und insbesondere den Artilleriebeschuss als heftiger als alles, was sie zuvor anderswo in der Ukraine erlebt haben.»

Russisches »Potenzial massiv reduziert»

Deutschland geht davon aus, dass bei Bachmut derzeit täglich bis zu 500 Soldaten der Gruppe Wagner ums Leben kommen, wie Christian Freuding sagt. Der Brigadegeneral der Bundeswehr geht weiter davon aus, dass Kiew für die kommenden Monate besser gerüstet ist als Moskau.

«Die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten sind mittlerweile sehr gut ausgestattet», erklärt der Leiter des Sonderstabes Ukraine. Der Westen habe «substanzielle» Winterhilfen geleistet. «Wo wir mit unseren Partnern noch nachlegen, ist im Bereich Heizgeräte und Generatoren. Da können wir noch besser werden.» Dennoch seien die «ukrainischen Streitkräfte eindeutig im Vorteil».

Russland hingegen könne trotz Teil-Mobilisierung «nur ansatzweise» die eigenen Verluste ausgleichen, wobei die Bundeswehr von 100'000 Gefallenen ausgeht. Hinzu käme noch einmal das zwei- bis dreifache an Verwundeten, so Freuding. «Die Landstreitkräfte sind in ihrem Potenzial massiv reduziert.»

Konvoi nahe der Krim getroffen

Dem Kreml stünden noch «25 bis 30 Prozent der Flugkörper» zur Verfügung, schätzen deutsche Nachrichtendienste. Mit Blick auf Kriegsverbrechen auch gegen Kinder sagt der Brigadegeneral: «Das ist russische Strategie. Das hat System.» Das Land sei «eine lupenreine Diktatur» – ein Konter gegen den deutschen Altkanzler Gerhard Schröder, der Russland einst eine «lupenreine Demokratie» genannt hat.

Könnte es im Winter eine neue ukrainische Offensive geben? «Ich glaube schon», antwortet Freuding. Vielleicht ja im Süden, scheint sich auch Moskau zu denken: Wie Satellitenbilder zeigen, hat Moskau in Medvedivka zwischen der Krim und dem Oblast Saporischschja seit September jede Menge Reserve-Material stationiert.

Medvedivka liegt knapp ausser Reichweite der ukrainischen Himars-Raketenwerfer. Und dennoch wird etwas weiter nördlich in Tschonhar am 20. Dezember ein russischer Munitionstransport zerstört, der wohl Nachschub nach Melitopol bringen sollte. Da ein Beschuss des mobilen Konvois durch Drohnen unwahrscheinlich ist, scheint hier die türkische Rakete TRG-230 im Einsatz zu sein, die 150 Kilometer Reichweite hat.

Waffen-Update

Damit es nicht dabei bleibt, wird Wolodymyr Selenskyj bei seinem Besuch in Washington um die Lieferung von Langstrecken-Raketen bitten: Mit der ATACMS könnten Himars- und MLRS-Artillerie Depots und Kasernen auf der ganzen Krim bedrohen. Auch Kampfdrohnen vom Typ Gray Eagle stehen auf Kiews Wunschliste, berichtet «Politico».

In trockenen Tüchern ist dagegen Panzer-Nachschub für Kiew: Nach Vermittlung der USA hat Marokko seine neutrale Haltung aufgegeben. Rabat wird Kiew nicht nur bis zu 120 T-72 überlassen, die gerade in Tschechien modernisiert werden, sondern auch Ersatzteile liefern.

Die Kosten von rund 90 Millionen Franken übernehmen die USA und die Niederlande, berichtet «Military Africa». Derweil stellt Kiew mit modernisierten M-55S-Panzern aus Slowenien gerade eine neue Brigade auf. Und last but not least: «Star Wars»-Star Mark Hamill sammelt Spenden, um für die Ukraine eine dänische Aufklärungsdrohne zu beschaffen. Sie heisst tatsächlich RQ-35 Heidrun.