Nato-Generalsekretär tritt ab Ukraine-Krieg? «Das alles kann noch sehr lange dauern»

Interview: Von Ansgar Haase, dpa

5.7.2024 - 11:29

Ukraine-Unterstützung: Nato gelingt keine Einigung

Ukraine-Unterstützung: Nato gelingt keine Einigung

Brüssel, 03.07.2024: Die Nato-Staaten sind sich nicht einig geworden: Generalsekretär Jens Stoltenberg ist mit dem Vorhaben gescheitert, die Bündnisstaaten zu mehrjährigen Zusagen für Militärhilfen für die Ukraine zu bewegen. Zumindest auf einer Unterstützung von mindestens 40 Milliarden Euro für das nächste Jahr konnten sich die Alliierten verständigen. Die Frage, wer wie viel beisteuert soll ebenfalls nicht final geklärt worden sein. Es soll nur festgehalten worden sein, dass das Bruttoinlandsprodukt eine Rolle spielen sollte. Stoltenberg hatte die Alliierten ursprünglich dazu aufgefordert, der Ukraine längerfristig Militärhilfen im Wert von jährlich mindestens 40 Milliarden Euro zu garantieren. Es gehe dabei auch darum, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu zeigen, dass er den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen werde.

04.07.2024

Was braucht es, um Russlands Präsidenten zum Aufgeben zu bewegen? Und wie gross wird die Nato 2034 sein? Kurz vor dem Bündnisgipfel in den USA äussert sich Generalsekretär Stoltenberg zu heiklen Themen.

5.7.2024 - 11:29

Schluss, aus, vorbei: Wenn alles nach Plan läuft, wird Jens Stoltenberg in der kommenden Woche zum letzten Mal ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der 32 Nato-Länder leiten. Von nachlassendem Engagement ist bei dem seit 2014 amtierenden Generalsekretär des Verteidigungsbündnisses allerdings noch nichts zu spüren.

In einem Interview der Deutschen Presse-Agentur äussert der 65-jährige Norweger jetzt klare Erwartungen – mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine, aber auch das Szenario eines Siegs von Donald Trump bei der Präsidentenwahl in den USA.

Donald Trump und Jens Stoltenberg im Dezember 2019 im englischen Watford.
Donald Trump und Jens Stoltenberg im Dezember 2019 im englischen Watford.
KEYSTONE

Herr Generalsekretär, seit dem 26. Juni ist es offiziell. Nach zehn Jahren an der Spitze der Nato wird Ihr Mandat definitiv zum 1. Oktober enden. Sind Sie erleichtert, dass die Nato-Staaten endlich einen Nachfolger für Sie gefunden haben? Oder hatten sie insgeheim gehofft, dass sie doch noch einmal gebeten werden, weiterzumachen?

Nein, ich begrüsse es sehr, dass die Nato-Partner sich auf meinen Nachfolger geeinigt haben. Mark Rutte wird ein hervorragender Generalsekretär der Nato sein. Er hat die Erfahrung und das Wissen, die es dafür braucht. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Er hat während all dieser Jahre seine Fähigkeit bewiesen, Konsens zu schaffen – und das wird er mit in die Nato bringen.

Für mich war es ein Privileg, zehn Jahre lang bei der Nato zu dienen. Als ich ankam, dachte ich, es würden maximal vier bis fünf Jahre werden. Ich war zehn Jahre lang Ministerpräsident und hätte nicht gedacht, dass ich genauso lange Generalsekretär sein würde. Aber jetzt ist es an der Zeit zu gehen. Das ist gut für die Nato und für mich.

Jens Stoltenberg war zehn Jahre Generalsekretär der Nato.
Jens Stoltenberg war zehn Jahre Generalsekretär der Nato.
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Zur Person

Der Norweger Jens Stoltenberg (65) ist seit Oktober 2014 Generalsekretär der Nato. Zuvor war er insgesamt fast zehn Jahre Ministerpräsident seines Heimatlandes. In dieser Funktion erlebte er auch die Anschläge eines rechtsextremen Massenmörders in Oslo und auf der Insel Utøya im Sommer 2011. Stoltenberg ist Vater zweier erwachsener Kinder. Zu seinen Hobbys zählen Skilanglauf und Radfahren.

Wenn Sie sich zurückerinnern, was war der bislang schönste Moment in ihrer Amtszeit?

Es ist immer extrem schwierig, unterschiedliche Ereignisse und Erfolge in eine Rangfolge zu bringen. Einen grossen Wert hat für mich aber sicherlich die Aufnahme von Finnland und Schweden. Diese zeigte Russlands Präsident Wladimir Putin sehr deutlich, dass er es nicht geschafft hat, die Türen der Nato zu schliessen. Er wollte, dass die Nato garantiert, keine neuen Verbündeten aufzunehmen. Was er bekommen hat, war das Gegenteil. Es sind neue Verbündete dem Bündnis beigetreten.

Was war der bitterste Moment? Der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine? Oder der von den USA erzwungene Abzug aus Afghanistan, der mit einer Rückkehr der Taliban an die Macht endete?

Es ist schwer, das zu vergleichen. Aber natürlich stellt die vollständige Invasion der Ukraine die grösste Sicherheitsherausforderung für die Nato seit dem Ende des Kalten Krieges dar. Das ist der grösste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und bleibt vermutlich die dramatischste und grösste Herausforderung, der wir während meiner Amtszeit gegenüberstanden.

16. August 2021: Verzweifelte Afghanen rennen neben einem US-Transportflugzeug vom Typ C-17 die Piste entlang.
16. August 2021: Verzweifelte Afghanen rennen neben einem US-Transportflugzeug vom Typ C-17 die Piste entlang.
KEYSTONE

Das letzte grosse Ereignis Ihrer Amtszeit wird wahrscheinlich der Gipfel in Washington in der nächsten Woche sein, bei dem auch noch einmal der 75. Geburtstag des Bündnisses gefeiert werden soll. Erwarten Sie, dass Russland versucht, die Feierlichkeiten zu stören?

Es gab vor fast jedem Gipfel während meiner Amtszeit Spekulationen darüber. Ich erinnere mich an den Warschauer Gipfel 2016, bei dem wir beschlossen, erstmals Truppen im östlichen Teil des Bündnisses zu stationieren. Es gab Spekulationen, ob Russland versuchen würde, uns einzuschüchtern. Wir hörten das auch vor dem Gipfel in Madrid und besonders vor dem in Vilnius.

Ich weiss nicht, inwieweit Russland tatsächlich grössere Pläne hatte, unseren Gipfel zu stören, aber sie haben es nicht geschafft. Allerdings gibt eine laufende Kampagne Russlands in Europa mit Sabotageaktionen, Cyberangriffen und Desinformation. Wir müssen immer darauf vorbereitet sein, dass dies in irgendeiner Weise verstärkt wird, sei es im Zusammenhang mit dem Gipfel oder nicht.

Thema beim Gipfel wird ein grosses Unterstützungspaket für die Ukraine sein. Worum geht es da?

Ich erwarte, dass sich die Alliierten auf ein langfristiges Versprechen einigen werden, um zu demonstrieren, dass Russlands Präsident Wladimir Putin uns nicht einfach aussitzen kann. Ich erwarte zudem, dass die Alliierten einem Nato-Kommando für die Ukraine zustimmen, um einen stärkeren Rahmen für die Unterstützung zu schaffen, mit einem Hauptquartier in Wiesbaden.

Ein afrikanischer Diplomat lässt sich am 31. Mai in Moskau vor in der Ukraine erbeuteten westlichen Waffen fotografieren.
Ein afrikanischer Diplomat lässt sich am 31. Mai in Moskau vor in der Ukraine erbeuteten westlichen Waffen fotografieren.
Imago

Eine konkrete Zusage über Militärhilfen im Umfang von mindestens 40 Milliarden Euro werden die Alliierten entgegen ihrer Forderungen allerdings nur für die Dauer eines Jahres geben. Welche Erwartung haben sie daran, dass künftig die Wirtschaftskraft entscheidend dafür sein soll, wer wie viel beisteuert?

Da wir darauf vorbereitet sein müssen, dass das alles noch sehr lange dauern kann, denke ich, dass mehr Transparenz, Vorhersehbarkeit und faire Lastenverteilung die Unterstützung nachhaltiger machen. Es ist dann einfacher, diese aufrechtzuerhalten. Natürlich ist es möglich, mehr als das Mindestmass zu geben, aber zumindest sollten wir sicherstellen, dass jeder seinen Teil basierend auf dem Bruttoinlandsprodukt beiträgt.

Ein weiterer Punkt ist: Je stärker unsere Unterstützung ist, desto schneller kann dieser Krieg enden. Das ist das Paradoxe. Je mehr wir uns langfristig verpflichten, desto schneller kann der Krieg enden. Denn jetzt glaubt Putin, dass er uns aussitzen kann. Wir müssen ihn überzeugen, dass er uns nicht aussitzen kann, und das kann dann die Bedingungen schaffen, um den Krieg zu beenden.

Als sie vor zehn Jahren ihr Amt antraten, hatte die Nato lediglich 28 Mitglieder – heute sind es mit Montenegro, Nordmazedonien, Finnland und Schweden vier mehr. Geben sie doch mal ganz persönlich einen Tipp ab: Wie viele Mitglieder wird die Nato 2034 haben?

Ich hoffe sehr, dass die Ukraine ein Verbündeter sein wird, und ich habe während meiner Amtszeit hier bei der Nato dafür gearbeitet. Es gibt auch andere Kandidatenländer, aber wann diese Prozesse abgeschlossen sein werden, darüber möchte ich nicht spekulieren.

Bislang kein Interesse angemeldet haben Länder wie die Schweiz, Österreich und Irland. Können sie sich da Bewegung vorstellen?

Wenn sie sich für eine Mitgliedschaft entscheiden, bin ich zuversichtlich, dass die Nato das bewältigen kann. Aber wir werden niemals Druck auf ein Land ausüben, beizutreten. Die Tür der Nato ist offen, aber die Nato hat niemals ein Land zum Beitritt in das Bündnis gezwungen oder gedrängt. Das ist deren Entscheidung. Für mich war das auch sehr wichtig, bevor Finnland und Schweden beitraten.

Mark Rutte wird Jens Stoltenberg beerben.
Mark Rutte wird Jens Stoltenberg beerben.
Archivbild: KEYSTONE

Ihr Nachfolger Mark Rutte könnte es im kommenden Jahr mit Donald Trump zu tun bekommen, der – vorsichtig formuliert – nicht gerade als einfacher Alliierter gilt. Ihnen ist es gelungen, mit ihm einigermassen klarzukommen. Haben Sie einen guten Tipp für Mark Rutte?

Zunächst bin ich absolut zuversichtlich, dass Mark Rutte mit jedem gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten zusammenarbeiten kann. Ich weiss auch, dass Mark Rutte mit Präsident Trump gearbeitet und ihn getroffen hat, als er Ministerpräsident war. Einen Rat werde ich ihm nicht geben, aber ich erwarte, dass die USA ein starker Verbündeter bleiben, unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen.

Warum sind sie da so optimistisch?

Ein Grund ist, dass es im Sicherheitsinteresse der USA liegt, eine starke Nato zu haben. Sie macht die USA stärker und sicherer. Zweitens gibt es eine starke parteiübergreifende Unterstützung für die Nato im US-Kongress und in der US-Öffentlichkeit. Und drittens richtete sich die Kritik des ehemaligen Präsidenten Trump nicht in erster Linie gegen die Nato, sondern gegen die Nato-Verbündeten, die nicht genug ausgeben.

Heute ist es so, dass 23 Alliierte zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben – im Vergleich zu dreien im Jahr 2014, als wir das Zwei-Prozent-Ziel vereinbart haben. Das macht einen grossen Unterschied. Dies zeigt, dass die USA die Last nicht allein tragen. Daher erwarte ich, dass die Vereinigten Staaten ein zuverlässiger Verbündeter bleiben, unabhängig von den Wahlen.


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